Gertrud Seehaus

geb. 2. Dezember 1934 in Merzig, gest. 30. März 2021 in Köln

Erst mit fünfzig hat sie ihren ersten Roman veröffentlicht. Den wichtigsten Impuls gaben die sechs Jahre, die sie mit ihrem zweiten Mann, dem Journalisten und Autor Peter Finkelgruen, in Israel lebte. „Dort in Jerusalem“, erzählt Gertrud Seehaus, „habe ich so richtig losgelegt mit dem Schreiben.“ „Lisa und Anatol“ erschien 1984. „Ein Frauenbild, wie fast alles, was sie beschreibt. Immer geht es um den Weg der Selbstfindung von Frauen, um ihre Wut, ihre Einengung. Es geht um die Suche nach dem eigenen Ich, um Widerstand und Hilflosigkeit. Gertrud Seehaus schreibt über die Macht und Ohnmacht der Ausgelieferten. Häufig sind jüdische Biographien bestimmend für die Inhalte, die Last der Erfahrungen, die Einsamkeit der übrig Gebliebenen.“ (Wibke Bruhns)

Geboren ist Gertrud Seehaus als Gertrud Biehl in Merzig, sechs Wochen vor der Volksabstimmung im Saargebiet (13. Januar 1935). Deren Votum für den Anschluss an das Deutsche Reich bewirkte, dass Gertrud ihre Kindheit in Nazi-Deutschland erlebte. Ihr Vater Karl Biehl war geboren in Püttlingen, die Mutter stammte aus Rimlingen, heute ein Ortsteil von Losheim am See. Schon bald nach der Geburt der Tochter – in den Folgejahren kamen noch zwei Söhne zur Welt – zog die Familie nach Saarbrücken. Während der ersten Evakuierung 1939 kam sie in Bonn bei Verwandten unter und musste daher nicht in eines der „Bergungsgebiete“, Thüringen oder Nordhessen. Nach Freigabe der geräumten „Roten Zone“ im Sommer 1940 kehrte Familie Biehl nach Merzig zurück. Gertrud kam in die Schule; das Gebäude in der Kaiserstraße, heute Hochwaldstraße, ist jetzt die Stadtbibliothek. 1943 starb Karl Biehl an einem Gehirntumor. Die Witwe stand vor dem materiellen Nichts und musste nun die Familie alleine durchbringen. Mit den Kindern suchte sie bei der Verwandtschaft in Rimlingen Zuflucht. Dort erlebten sie das Kriegsende, die letzten Tage im Rimlinger Stollen. Danach zogen sie nach Bonn.

Dort machte Gertud Biehl Abitur, bei den „Schwestern unserer lieben Frau“. Schauspielerin wollte sie werden, vor allem aber Regisseurin. So studierte sie nach der Schauspielschule Theaterwissenschaft. Aber die Regisseurin ließ sich nicht verwirklichen, da waren die Widerstände im männlich dominierten Theater – und Medienbetrieb (noch) zu groß. So arbeitete Gertrud Biehl als Schauspielerin, Radio-Sprecherin und Lektorin, sattelte auf Pädagogik um und arbeitete anschließend zehn Jahre lang als Grund-und Hauptschullehrerin in Köln. Inzwischen trug sie einen anderen Namen, denn 1963 hatte sie den Literaturwissenschaftler Günter Seehaus geheiratet. Nach dessen Tod heiratete Gertrud Seehaus 1978 Peter Finkelgruen, einen 1942 im Ghetto von Shanghai geborenen deutschen Juden mit israelischem Pass. Sie gab ihren Lehrerberuf (und ihren sicheren Beamtenposten) auf und folgte ihrem Mann nach Israel, als Peter Finkelgruen dort Auslandskorrespondent der Deutschen Welle wurde und in Jerusalem das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung leitete.

Wo das Leben pulsiert

Nach „Lisa und Anatol“ schrieb und veröffentlichte Gertrud Seehaus weitere fünf Romane und einen Band mit Erzählungen. Daneben trat sie auch mit Hörspielen und Bühnenstücken in Erscheinung. Bei ihrem letzten Schauspiel, „Du musst wissen wir wohnen in Babylon“, 2001 im Freien Werkstatt-Theater Köln, führte sie – endlich – auch Regie.

Mit Camilla, der Ich-Erzählerin der „Lebensliste“, teilt Gertrud Seehaus „eine unstillbare Leidenschaft fürs Beobachten“ verschiedenster Menschen und Milieus, wo das Leben pulsiert, wo man Deutsch, Jiddisch, Polnisch und Türkisch oder alles durcheinander spricht. Vieles davon ist durch eigenes Erleben inspiriert. Autobiographisch ist nach Gertrud Seehaus auch ihr Roman „Gruß an Ivan B.“ (1987). Er erzählt in der Ich-Form den inneren Kerker einer Frau, die nach einer Vergewaltigung traumatisiert ist und in ihrem Alltag als Lehrerin alle sozialen Bindungen zu verlieren droht. Das Trauma ist von der Autorin selbst durchlebt worden, 1977 in Paris, wo sie zwei Polizisten in die Hände fiel, die sie als „Terroristin“ verdächtigten. 1986 hatte bereits ihr Theaterstück „Die Zeit im Kopf“ das Trauma des Eingeschlossenseins zum Thema, konkret: das Martyrium des Lyrikers Ivan Blatny (1919 – 1990). Der tschechische Kommunist hatte sich 1948 nach England abgesetzt, war dort psychisch erkrankt und in einer Nervenheilanstalt einfach vergessen worden. Erst nach fast dreißig Jahren hatte eine Krankenschwester entdeckt, dass der Patient ein Dichter war.

Gertrud Seehaus wurde mehrfach ausgezeichnet; unter anderem war sie Ehrengast der Villa Massimo in Rom (1989). Im gleichen Jahr gab sie in Hamburg gemeinsam mit Peter Finkelgruen und anderen die „Satanischen Verse“ Salman Rushdies in deutscher Sprache heraus. Mit ihrem Mann gehört sie dem PEN der Bundesrepublik an. Auch sonst mischt sie sich streitbar in politische und kulturpolitische Tagesgespräche ein, zum Beispiel in die Diskussion um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers.“ Besonders wichtig ist es Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen, Kinder gegen neonazistische und rassistische Hasspropaganda stark zu machen. Dazu setzen sie ihrer beider Lebenserfahrung ein, als Kind in Nazideutschland und als Kind im Flüchtlings-Ghetto in Shanghai. Bei dem Engagement ist ein Kinderbuch entstanden, „Opa und Oma hatten kein Fahrrad“ (2008). Die zehn Jahre zuvor hatte Peter Finkelgruen dafür gekämpft, dass der ehemalige SS-Wachmann Anton Malloth für die Ermordung seines Großvaters Martin Finkelgruen im KZ Theresienstadt vor Gericht gestellt wurde.

Ihren letzten Roman, „Die Geisterschreiberin“, veröffentlichte Gertrud Seehaus ebenfalls 2008. Ins Saarland kehrt sie gelegentlich zurück, es lebt ja noch Verwandtschaft in Rimlingen. Der Gollenstein Verlag brachte 1996 ihren Roman „Der Pokal des Riesen“ heraus. „Eine richtige Lesung im Saarland“, so die Autorin, würde sie schon gerne noch mal machen. Aber mit über achtzig tritt sie notgedrungen kürzer. Nicht, dass ihr die Stoffe ausgingen. Eine Biographie ihrer Mutter, die als uneheliches Kind in Rimlingen aufwuchs, liegt fertig geschrieben in der Schublade – unveröffentlicht. „Schreiben kann man immer weiter. Man kann nur nicht mehr alles loswerden.“ Merzig ist nur noch eine ferne Kindheitserinnerung. Vor Augen hat Gertrud Seehaus, wenn der Name fällt, „das Kapellchen“ oben auf dem Kreuzberg und den „Eisladen in der Trierer Straße.“. Gertrud Seehaus lebt heute mit ihrem Mann in Köln. (IP)
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