Ein schwieriges Verhältnis – Hugo Ball und Pirmasens

Rainer Petto

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um 1903. Foto: Hugo Ball Sammlung Pirmasens

Hugo Ball ist der bedeutendste Sohn der Stadt Pirmasens. Aber das Verhältnis der Pfälzer zu ihrem großen Sohn war lange Zeit schwierig, das Verhältnis Hugo Balls zu seiner Geburtsstadt nicht minder.

Ball schrieb Kulturgeschichte. 1916 hat er in Zürich die Bewegung des Dadaismus initiiert, die alle Sparten der Kunst erfasste und die bis heute fortwirkt.

Hermann Hesse hat über ihn gesagt: „Seine Schriften werden einmal zu den besten deutschen Büchern unserer Zeit gezählt werden.“ Die Biografie dieses Theatermanns, Schriftstellers, frühen Lautpoeten, Erfinders des literarischen Kabaretts, politischen Publizisten, Gottsuchers ist einmalig in der Konsequenz einer rein auf geistige Interessen gestützten asketischen Existenz, einer kompromisslos anti-bürgerlichen Lebensführung, die Not, Hunger, gesellschaftliche Ächtung nicht scheut und durchgehalten wird bis zum Tod. Aber Balls Name ist heute auch im Bewusstsein selbst von Literaturliebhabern nicht mehr wirklich präsent.

Zu Hause in Pirmasens mochte man, je nachdem, die Unsinnsdichtung des Dada, den Pazifismus, die Entfernung aus der Heimat, die Ehe mit einer Frau von zweifelhaftem Lebenswandel, die Wende zum Katholizismus, die Schroffheiten in Balls Persönlichkeit und/oder seine abfälligen Bemerkungen über die Pfalz nicht goutieren.

Zwanzig Jahre, also die Hälfte seines kurzen Lebens, hat Ball in Pirmasens verbracht, aber in seinem Werk spielt die Stadt so gut wie keine Rolle, weder als Motiv, noch etwa in dialektalen Anklängen. Sein autobiographisches Werk „Die Flucht aus der Zeit“ setzt erst nach seiner Pirmasenser Zeit ein. Häufig zitiert wird Balls Satz über das Unglück, in der Pfalz geboren zu sein. In Pirmasens wurde jahrzehntelang um das Verhältnis zu diesem schwierigen Sohn gerungen, bis man endlich in den 1970er Jahren damit begann, ihn „heimzuholen“. Nun wurde in vorbildlicher Weise versucht, Versäumtes nachzuholen – aber auch das ging nicht ab ohne heftige Auseinandersetzungen.

Der Name von Balls Geburtsstadt geht auf den heiligen Pirminius zurück, der das nahegelegene Kloster Hornbach gründete (siehe den Beitrag Hornbach – Die Klosterstadt des heiligen Pirmin). Nach dem Wiener Kongress war Pirmasens ans Königreich Bayern gefallen, seit 1871 gehört es zum Deutschen Reich.

Als Hugo Balls Eltern 1876 nach Pirmasens ziehen, hat die Stadt rund 10.000 Einwohner, die Zahl steigt im Zuge der Industrialisierung an auf über 30.000 um die Jahrhundertwende (heute 40.000). Pirmasens entwickelt sich zur deutschen Schuhmetropole, in Balls Geburtsjahr existieren hier über 50 Schuhfabriken, 15 Gerbereien, 12 Leder- und Schuhgrossisten und 30 Schuheinzelhändler. Ball: „Die Schusterhämmer klopften lustig rings um meine Wiege.“

Hugo-Ball-Skulptur

www.herxheim.de/de/inhalte/kunst-kultur/geschichte/historischer-spaziergang

Der Vater Karl Ball, 1849 in Hesselbach in der Schweinfurter Rhön geboren, verdient den Lebensunterhalt der Familie als Buchhalter, dann als Schuhreisender und Lederhändler. Die Mutter Josephina Ball, Jahrgang 1855, ist eine Bauerntochter aus Herxheim bei Landau.

Hugo Rudolph Ball kommt am 22. Februar 1886 zur Welt. 1926 wird er über seine Kindheit schreiben: „Geboren bin ich von Eltern, die ebenso echte Katholiken als begeisterte Deutsche waren. Die Mutter […] war so streng im Glauben und in der Lebensführung, daß das Kind sich fürchtete. So haben die eigentliche Herzenserziehung zwei Schwestern der Mutter übernommen. […] Der Vater […] war so gütig und voller Erfindung und Nachsicht, wie die Mutter streng war.“ Bärbel Reetz charakterisiert die Mutter in ihrer Doppelbiografie von Emmy Ball-Hennings und Hugo Ball als „unbeugsam im katholischen Glauben, den sie im protestantischen Pirmasens meinte, schützen und verteidigen zu müssen“.

Heiligengeschichten berühren das sensible Kind auf zwiespältige Art: „Wie sah meine Kindheit aus? Ich versammelte abends die ganze Familie um mein Bett, fürchtend, ich könne sie schon am nächsten Tag verloren haben. Als ich mit neun Jahren die Geschichte des hl. Laurentius hörte, war ich einer Ohnmacht nahe. Mit Überwindung verdarb ich mich; suchte mich anzupassen. Bei meinem schüchternen Wesen war mir die Brutalität verfänglich. Ich suchte nach Kräften das Edlere, Zartere auszumerzen. So wurden Begeisterungen zu Perversionen.“

Die Familie besitzt kein eigenes Haus in Pirmasens und zieht öfter um. In dem Haushalt mit sechs Kindern, deren fünftes Hugo ist, geht es bescheiden zu, die Mutter verdient mit Heimarbeit für die Schuhindustrie dazu.

scan abiturzeugnis handgeschrieben

Abiturzeugnis

Nach vier Jahren Volksschule besucht Hugo Ball von 1895 bis 1901 in Pirmasens ein so genanntes Progymnasium, das nicht bis zum Abitur führt, und wird dann von seinen Eltern in die kaufmännische Lehre bei der Lederhandlung Schohl geschickt. Heimlich liest und dichtet er nachts, oft bis in die frühen Morgenstunden. Er wird krank und kann durchsetzen, dass er, obwohl es für die Eltern eine große finanzielle Belastung ist, Privatstunden bekommt, um sich für die Aufnahmeprüfung am Königlichen Humanistischen Gymnasium in Zweibrücken vorzubereiten. Nach dem Abitur beginnt er im Oktober 1906 ein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in München. Nach Pirmasens wird er nur noch für seltene, kurze Besuche zurückkehren.

Hugo Balls Lebenslauf ist zu anarchisch, um hier nachgezeichnet werden zu können. Er ist geprägt von zahllosen Ortswechseln, unterschiedlichsten Tätigkeiten, prekärer wirtschaftlicher Situation, wechselnder intellektueller Orientierung, ruhelosem Kunstschaffen. Er heiratet die ebenfalls rastlose, ebenfalls total unbürgerliche, als Schriftstellerin unterschätzte Emmy Hennings, und findet nach Umwegen zurück zur katholischen Kirche. Mit Hermann Hesse verbindet ihn eine enge Freundschaft, Sympathie mit dem Philosophen Ernst Bloch, der auch aus der Pfalz stammt. Ball ist im ständigen Austausch mit vielen anderen Größen des damaligen künstlerischen intellektuellen Lebens, doch ihm selber bleibt die künstlerische Anerkennung Zeit seines Lebens versagt. Er stirbt am 14. September 1927 in der Schweiz an Magenkrebs. Die Witwe webt in den ihr verbleibenden zwei Jahrzehnten an ihrer beider Legende.

Ball beim Vortrag von Versen ohne Worte. Zürich 1916

Während des Ersten Weltkriegs im Schweizer Exil hat Hugo Ball seinen großen historischen Moment. Mit anderen Künstlern zusammen initiiert er auf der Bühne eines Kabaretts eine künstlerische Revolution, die alle Sparten der Kunst umfassende Dada-Bewegung. Aber noch bevor der Dadaismus als neue Kunstrichtung erkannt wird, wendet Ball sich, allen -ismen abhold, davon ab.

Martin Mittelmeier charakterisiert Dada so: „Das Zerlegen des Bestehenden und das Neukombinieren der befreiten Elemente ist eine grundlegende Technik der Dadaisten, sie nimmt sich die Institutionen der Gesellschaft und deren symbolische Codes vor. […] Krieg, Revolution und deren Niederschlagung erzeugen genug Gesellschaftsabfall, den man als Dadaist dann nur noch einsammeln muss.“

Von seiner Mutter wird Hugo Balls Entwicklung mit Unverständnis und Ablehnung begegnet. Seine Schwester Maria, mit der er zeitlebens im Briefaustausch bleibt, ist seine Verbindung zur Familie, zur Heimat. Als die Mutter dem 30-jährigen vorwirft, dass er in seinem Leben nichts erreicht hat, schreibt er an die Schwester: „Die Mutter soll ihre lächerliche Abneigung endlich mal ein wenig vergessen. […] Ich will es nicht zu etwas bringen (in Mutters Sinn), ich will meine Gedanken durchsetzen.“

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs trifft Hugo Ball sich kurz wieder mit seiner Familie und stellt fest, dass Pirmasens „nicht so hübsch, sondern ein wenig roh und schmutzig ist“ und er sich hier „nicht mehr so ganz zurechtfinden“ kann.

1926. Foto: Hugo Ball Sammlung Pirmasens

Erste Gedichte, deren lokaler Bezug sich auf die Titel beschränkt, veröffentlicht Hugo Ball schon während seiner Gymnasialzeit in der Zeitschrift „Der Pfälzerwald“. Bezüge zu seiner Heimat finden sich nur in Briefen. 1926 schreibt er „Die Reserve in der Zuneigung beruht wohl auf Gegenseitigkeit.“ Pirmasens sei ihm „kaum jemals als günstiger Mutterboden gerade für Dichter und Denker erschienen“. Und im Januar 1924 fällt in einem Brief eine Formulierung, die ihm in der Pfalz später sehr übelgenommen wird: „Wenn man das Unglück hat, in der Pfalz geboren zu werden, dann muss man immer im Wald herumlaufen, das ist die einzige Rettung.“ Der Pirmasenser Hugo-Ball-Forscher Eckhard Faul meint allerdings: „Im Gesamtzusammenhang klingt der berühmt-berüchtigte Satz nicht mehr ganz so negativ für Balls Heimat: Er wusste immerhin auch ihre [landschaftlichen] Vorzüge zu schätzen.“

Eckhard Faul hat das Verhältnis von Ball zur Pfalz und das der Pfalz zu ihm im Detail nachgezeichnet. Die Pfalz hat ihren großen Sohn mit Anerkennung lange nicht verwöhnt. Als er und Emmy Hennings 1920 bei einem Verwandtenbesuch im Pirmasenser katholischen Vereinshaus einen literarischen Abend veranstalten, wird der „Landesverräter“ hinterher auf der Straße mit Steinen beworfen.

1921 schreibt er an seine Stieftochter: „Bis nach Pirmasens, schreibst Du, ist unser Ruhm noch nicht gedrungen. Nun, das wird auch noch kommen, mein Liebling. Später einmal…“

1925 erscheint in der „Pirmasenser Zeitung“ unter der sarkastischen Überschrift „Ein berühmter Landsmann“ ein großer Schmähartikel über Hugo Ball, der mit den Worten endet: „Und nun desinfizieren wir unsere Hände.“

„Die Verunglimpfung Balls in der Pfalz endete mit seinem Tod nicht“, sagt Eckhard Faul. Noch 1971 – der Dadaismus wird anderswo wieder stärker wahrgenommen – stellt Ernst Johann in seinem Buch „Deutschland deine Pfälzer“ achselzuckend fest, über Ball sei das meiste gesagt, wenn man sage, dass man ihn in der Pfalz nicht kennt.

Aber schon in den 70er Jahren – der Niedergang der Schuhindustrie als Hauptwirtschaftszweig der Stadt hat begonnen, Pirmasens sucht eine neue Identität – bahnt sich die Wende im Verhältnis zu Hugo Ball an.

1970: Als Anlaufstelle für die Ball-Forschung wird vom Leiter der Stadtbücherei Ernst Teubner die Hugo-Ball-Sammlung gegründet.

1976 stellt der Pirmasenser Oberbürgermeister Karl Rheinwalt (SPD) fest, dass Ball „unzweifelhaft der größte Sohn“ der Stadt sei, und ruft dazu auf, ihn „nach Pirmasens heimzuholen“. Und es geschieht einiges.

Ab 1977 gibt die Stadt den Hugo-Ball-Almanach heraus.

1983 kann das Neusprachliche Gymnasium nach jahrelangen Auseinandersetzungen in Hugo-Ball-Gymnasium umbenannt werden. Schulleitung, das Gros der Lehrer und die Schülervertretung finden, dass Ball kein Leitbild für Schüler verkörpere. Die Stadt muss die Umbenennung gegen den Widerstand der Bezirksregierung und damit gewissermaßen gegen das Land Rheinland-Pfalz gerichtlich durchsetzen. Die heutige Schulleitung bekennt sich zum Namensgeber, Zitate aus seinem Werk auf der Homepage sollen zeigen, „dass das Werk von Hugo Ball auch die Arbeit einer Schule inspirieren kann“.

Büste vor Gymnasium Pirmasens

1987 wird vor dem Eingang der Schule eine Hugo-Ball-Büste der Saarbrücker Künstlerin Jolande Lischke-Pfister (1932-2019) aufgestellt.

1986 wird anlässlich des 100. Geburtstages Balls 1986 eine große Ausstellung zu Leben und Werk des Schriftstellers erarbeitet und in Pirmasens gezeigt. Der umfangreiche Katalog gilt bis heute als Standardwerk zu seiner Biographie.

Seit 1990 verleiht Pirmasens im Dreijahresrhythmus den Hugo-Ball-Preis, mit ihm werden „herausragende Werke lebender Persönlichkeiten gewürdigt, die im Sinne Hugo Balls geisteswissenschaftlich und/oder künstlerisch arbeiten“.

1998 wird die Hugo-Ball-Gesellschaft gegründet, ihr Ziel ist vor allem Edition der Gesamtausgabe der Werke Balls.

H. Ball Kabinett Pirmasens

Dass die Durchsetzung Hugo Balls in seiner Heimatstadt bis in die jüngere Zeit nicht geradlinig verlief, zeigt die Vorgeschichte des Hugo-Ball-Kabinetts im Forum Alte Post, einem seit 2013 als Plattform für Kultur genutzten ehemaligen Königlich Bayerischen Postamt.

Die interaktive Dauerausstellung im Dachgeschoss, fokussiert auf den Dadaisten Hugo Ball, sollte ursprünglich auf Kosten der wissenschaftlichen Hugo-Ball-Sammlung eingerichtet werden – es begann ein „Kleinkrieg“ mit „vielen unappetitlichen Details“. Am Ende konnte der „Willkürakt sondergleichen“ doch noch abgewendet werden (siehe „Neue Zürcher Zeitung“ vom 2.4.2014).

In der Stadt Pirmasens gibt es kaum noch Spuren von Hugo Ball. Keine Straße, kein Platz ist nach dem großen Sohn der Stadt benannt, außer der Büste am abseits des Zentrums gelegenen Gymnasium wurde ihm kein Denkmal errichtet. Wohnhäuser der Familie existieren nicht mehr. Die Innenstadt von Pirmasens wurde im Krieg zu einem großen Teil zerstört, anderes wie das Geburtshaus nach dem Krieg abgerissen. 2016 wurde anlässlich des Dada-Jubiläums auf Betreiben der Hugo-Ball-Gesellschaft am Ort des nicht mehr existierenden Geburtshauses anlässlich des Dada-Jubiläums 2016 eine Informationsstele aufgestellt.

Auch dort, wo das Progymnasium und das Haus der Lederhandlung Schohl standen, stehen heute Neubauten. Erhalten hat sich nur die erste Schule Hugo Balls, die damalige Volksschule, es ist das Matzenberg-Schulhaus in der Winzler Straße, das heute noch in der alten Form besteht und immer noch als Schule genutzt wird.

Stele am Ort von Balls Geburtshaus

Trotzdem lohnt es sich, Hugo Balls wegen nach Pirmasens zu reisen. Die Hugo-Ball-Sammlung in den Räumen der Stadtbücherei steht nach Anmeldung allen offen, die sich intensiver mit Hugo Ball, Emmy Ball-Hennings und dem Dadaismus befassen wollen. Neben dem Hugo-Ball-Kabinett werden im Forum Alte Post immer wieder Wechselausstellungen zum Themenumfeld gezeigt, im Frühjahr/Sommer 2020 beispielsweise eine Ausstellung zu Emmy Ball-Hennings.

Kurioses Nachleben weit entfernt von Pirmasens: Neun Jahrzehnte, nachdem Hugo Ball an den Folgen des Hungers gestorben ist, gibt es in Berlin-Neukölln eine Flammerie-Bar namens Hugo Ball, die auf der Website „satt und froh“ empfohlen wird.