Zetting

Von Sarreguemines bis Gondrexange (dt. Gunderchingen; ca. 400 Einw.) verläuft seit 1861 der Saarkanal (Canal des Houillères de la Sarre). Früher diente er dem Transport von Steinkohle, heute wird er vorwiegend touristisch genutzt. Bis Herbitzheim verläuft er nahezu parallel und in Sichtweite zur Saar. Auf den alten Treidelpfaden wurden Fahrradwege angelegt, die es erlauben, dem Wasserlauf zu folgen.

Wer mit dem Auto unterwegs ist, nimmt am besten die D33 nach Zetting (dt. Settingen; ca. 800 Einw.). Auf einer Anhöhe oberhalb des Dorfes steht die Pfarrkirche Saint-Marcel, ein mittelalterliches Kleinod. Durch einen romanischen Rundturm gelangt man in ein gotisches Langhaus. Den Chor (1473) schmücken sieben farbig verglaste Maßwerkfenster einer Straßburger Werkstatt. Sie erzählen Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament, aber es sind auch nicht-biblische Legenden darunter.

In der Südost-Ecke etwa zeigt ein Fenster, wie zwei geharnischte Ritter auf zwei Bauern zureiten, die ein Kornfeld bestellen. Abgebildet wird hier die Kornfeldlegende aus dem 13. Jahrhundert, der zufolge die heilige Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten in einem über Nacht gewachsenen Ährenfeld Zuflucht gefunden haben soll und so den Häschern des Herodes entging. Die Legende lebt auch in einem lothringischen Volkslied wieder, das Louis Pinck (1873-1940) in seine Lieder-Sammlung Verklingende Weisen aufgenommen hat: ZITAT

Die Geschwister Pinck sind für die lothringischen Märchen, Sagen und Volkslieder so bedeutsam wie die Gebrüder Grimm für Deutschland. Louis und seine Schwester Angelika Merkelbach-Pinck (1885-1972) wuchsen zusammen mit elf weiteren Geschwistern in Lemberg auf, einer Gemeinde im ostlothringischen Bitscherland (Pays de Bitche). Das Interesse an der Region und am Volkslied wurde den beiden gleichsam in die Wiege gelegt: Der katholische Vater, seines Zeichens Post- und Bürgermeister von Lemberg, sammelte in seiner Freizeit lothringische Altertümer, die früh verstorbene protestantische Mutter lehrte sie „luddrische“ (lutherische) Lieder.

Il faut toujours lustig sein

Nach ihrer Schulzeit in Fénétrange (dt. Finstingen) absolvierte Angelika Pinck in Metz die Ausbildung zur Volksschullehrerin und unterrichtete später sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. Daneben sammelte sie Lothringer Märchen und Sagen, die sie in den Bänden Lothringer erzählen (1939), Sagen aus Lothringen (1940) und der zweibändigen Sammlung Aus der Lothringer Meistube (1943) veröffentlichte. Nach dem Krieg kümmerte sie sich um deutsche Kriegsgefangene, arbeitete als Deutschlehrerin und publizierte weitere Volkserzählungen aus Ostlothringen. Heute gilt sie als bedeutendste Märchenforscherin der Region.

Ihr Bruder Louis ging in Bitche (dt. Bitsch) zur Schule und studierte anschließend in Straßburg katholische Theologie. 1901 wurde er in Metz zum Priester geweiht. Neben seiner Tätigkeit als Prediger gab er die Zeitschriften Lothringische Volksstimme und Metzer Katholisches Volksblatt heraus. Wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der deutschen Politik im annektierten „Reichsland Elsass-Lothringen“ wurde er 1908 nach Hambach (Moselle) strafversetzt. Im Herbst 1914, der Erste Weltkrieg hatte gerade begonnen, beobachtete er in der dortigen Kirche einen alten Mann. Er betete die 14 Kreuzwegstationen, die das Kircheninnere noch heute schmücken, und sang dazu ein lothringisches Passionslied. Dieser Moment sollte in die regionale Literaturgeschichte eingehen:

Der fromme Mann hieß Jean Pierre Gerné, genannt „Papa Gerné“, und stammte aus dem Nachbardorf Guebenhouse (dt. Gebenhausen). In der Folgezeit besuchte Pinck ihn mehrmals, ließ sich alte Volkslieder vorsingen und zeichnete sie gewissenhaft auf. Es war der Beginn einer langen Leidenschaft. In den folgenden 32 Jahren besuchte Pinck über 150 Dörfer Ostlothringens: zu Fuß, mit dem Fahrrad, per Pferdefuhrweg und später mit dem Auto. Überall ließ er sich Lieder vorsingen, deren Texte und Melodien er mit Hilfe seines Assistenten Auguste Rohr (1906-89; s. Sarreguemines) bzw. eines Phonographen festhielt. Die schönsten veröffentlichte er in der mehrbändigen Sammlung Verklingende Weisen, darunter das Trinklied „Il faut toujours lustig sein“ (Man muss immer lustig sein). Auf typisch lothringische Weise werden darin die deutsche und die französische Sprache zu einer neuen Einheit vermischt: ZITAT

Nach 1918 machte sich Louis Pinck bei den nun wieder französischen Behörden mit seiner Kritik an deren Sprachpolitik unbeliebt. Er starb im Kriegsjahr 1940 und liegt auf dem Friedhof von Hambach begraben (Beschilderung „Cimetière“ folgen). Sein Grab befindet sich an der Ostmauer, seine Inschrift ist ein Appell an den Frieden: „Unserm Volk deinen Glauben, unserm Land deinen Frieden, meiner Seele deine Barmherzigkeit“. Neben ihm ruht sein „Priesterbruder“ Leo, dessen Grabstele ein Liedtext aus den Verklingenden Weisen ziert: „Maria du Himmelskönigin, wir sind doch alle deine Kinn…“