Postroff

Nur wenige Kilometer östlich von Fénétrange, nahe der Grenze zum Elsass, aber noch auf lothringischem Gebiet, liegt das Dorf Postroff (dt. Postdorf, ca. 200 Einw.), eine alte Poststation, die ursprünglich zur Herrschaft von Fénétrange, dann zu Sarrewerden und schließlich zu Nassau-Saarbrücken gehörte. Erst 1766 wurde der Ort an Frankreich abgetreten. Mit der Herrschaft wechselte mehrfach auch die Konfession, weshalb in Postroff heute beide Glaubensrichtungen vertreten sind. Die alte Dorfkirche in der „Rue principale“ gehört zwar der katholischen Mehrheit, doch schon 1833 wurde in der heutigen „Rue de l´Eglise“ eine evangelische Kirche errichtet. Beide Bauten stehen nur einen Steinwurf voneinander entfernt und zeugen von der Möglichkeit eines konfessionellen Miteinanders.

Zu den protestantischen Bewohnern von Postroff zählte die Straßburger Patrizier- und Kaufmannsfamilie derer zu Turckheim, die hier einen kleinen Gutshof besaßen. 1793 flüchtete der Bankier und kurzzeitige Straßburger Bürgermeister Bernard-Frédéric de Turckheim (1752-1831) hierher, nachdem er von den Straßburger Jakobinern angeklagt und seines Amtes enthoben worden war. Anderthalb Jahre verbrachte der von den Bauern „Papa Türkcheim“ genannte Adlige mit seiner Frau und den fünf Kindern in dieser ländlichen Idylle, weitab von den Wirren der Weltgeschichte. Statt erregter Revolutionäre umgaben ihn nun friedliche Schweine, Hühner und eine Kuh.

Doch was hat das alles mit Literatur zu tun? Nun, die Gattin des Barons war niemand anderer als Anna Elisabeth Schönemann (1758-1817), die einstige Braut Johann Wolfgang Goethes (1749-1832). Sie selbst nannte sich Elise oder Lise, in Goethes Gedichten begegnet sie uns als „Lili“. Die Tochter eines Frankfurter Bankiers und einer Französin aus hugenottischem Adel war in Frankfurt zweisprachig aufgewachsen. Anfang 1775 hatten sich der 25jährige Dichter und das damals 16jährige Mädchen kennengelernt und zu Ostern des gleichen Jahres heimlich verlobt. Doch die beiden Familien stemmten sich mit aller Macht gegen die Verbindung und übten auf die jungen Leute einen Druck aus, dem sie am Ende nicht standhielten. Im August 1785 gestand Goethe seinem Freund Johann Heinrich Merck in einem Brief, er sei bei den Schönemanns „scheissig gestrandet“. Im Oktober kam es schließlich zur Trennung. Doch noch Jahrzehnte später bekannte Goethe gegenüber Eckermann: „Sie war in der Tat die erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, dass sie die Letzte gewesen.“ (Gersdorff, S.26)

Das emotionale auf und ab jener Monate schildert der alte Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit. Doch wie sehr es ihn seinerzeit „gepackt“ hatte, erkennt der neugierige Leser besser bei der Lektüre der „Lili-Gedichte“, mit denen Goethe seiner Verlobten einen Platz in der Literaturgeschichte sicherte. Hier ein kurzer Auszug aus dem wohl bekanntesten Text Lilis Park. Will man den lyrischen Worten Glauben schenken, so hatte Lili in dieser Beziehung die Hosen an, was Goethe emotional etwas überfordert zu haben scheint: ZITAT

Kurz nach der Trennung arrangierte Lilis Mutter eine Verbindung mit dem Straßburger Harry Bernard, der sich jedoch als Bankrotteur erwies und nach Jamaica flüchtete. 1778 kam es schließlich zur Ehe mit Bernard Frédéric de Turckheim, ihrem dritten Verlobten. In den Jahren 1766-70 hatte er bereits im Bankhaus von Lilis Vaters gearbeitet und sich dabei als solider Geschäftsmann erwiesen. Das junge Paar übersiedelte in ein schönes Haus nach Straßburg (1 Rue Brûlée). Keine zwei Jahre später brach das Bankhaus Schönemann zusammen, nachdem Lilis Bruder Jean es durch gefälschte Buchführungen in den Konkurs getrieben hatte.

Goethes Lili muss fliehen

Nach 15 Ehejahren in der Großstadt Straßburg fanden sich die Turckheims nun also in Postroff wieder. Da es hier damals noch keine evangelische Kirche gab, besuchte die Familie den Sonntagsgottesdienst im benachbarten (elsässischen) Wolfskirchen. Das ländliche Idyll war allerdings nicht von Dauer. Im Sommer 1794 erhielt Postroffs Bürgermeister ein Schreiben des Straßburger Wohlfahrtsausschusses (Comité du Salut Public), mit dem Befehl, Bernard-Frédéric de Turckheim umgehend zu verhaften und an das Revolutionstribunal auszuliefern. Ein solcher Brief kam damals einem Todesurteil gleich. Doch der Bürgermeister warnte den Baron und verschaffte ihm so den rettenden Vorsprung. Als Holzfäller verkleidet floh er über Forbach nach Deutschland.

Die Gefahr war damit freilich noch nicht vorüber. Seine zurückgebliebene Gattin und die fünf Kinder (die Älteste war 15, der Jüngste gerade mal fünf Jahre alt) drohten als Geiseln verhaftet zu werden und mussten ebenfalls fliehen. Durch einen Brief ihres Sohnes Jean-Frédéric (Fritz) und einen weiteren ihres Hauslehrers, des Theologen Johann Michael Fries, sind wir über den Verlauf der abenteuerlichen Flucht, eines 15stündigen Fußmarsches von Postroff nach Saarbrücken, genauestens unterrichtet. Mag sein, dass Goethe, der über Freunde von dem mutigen Verhalten seiner einstigen Braut erfahren hatte, an sie dachte, als er 1775 die Flüchtlingsgeschichte Hermann und Dorothea niederschrieb. Die Pfälzer Autorin Ruth Istock, geboren 1933 in Alzey, ließ sich davon zu dem Roman Goethes Lili (2009) inspirieren. Sie schildert darin, wie Lilis Enkelin Cécile die Lebensgeschichte ihrer berühmten Großmutter zu rekonstruieren versucht. Ihr Vater beginnt schließlich zu erzählen: ZITAT

Über Mannheim flohen die Turckheims nach Frankfurt, wo sie im Haus Schönemann unterkamen. Später ließen sie sich in Erlangen nieder, wo es schon seit dem 17. Jahrhundert eine bedeutende Hugenottenkolonie und zudem eine Universität gab, an der Bernard-Frédéric Kurse belegte. Seiner Frau dagegen oblag es, mit kleineren Arbeiten die Familie über Wasser zu halten. Zusätzlich musste sie drei Elsässer (darunter den Hauslehrer ihrer Kinder) versorgen, die dank ihres persönlichen Einsatzes aus österreichischer Kriegsgefangenschaft freigekommen waren und nun unter ihrem Dach lebten. Später kamen noch zwei Neffen und drei elsässische Studenten hinzu. Elisabeths teils in deutscher, teils in französischer Sprache verfassten Briefe aus jener Zeit vermitteln einen lebendigen Eindruck von den schwierigen Bedingungen, unter denen die Familie damals zu leben hatte.

Als sich im Sommer 1795 die Lage in Frankreich wieder etwas beruhigt hatte, kehrte zunächst der Vater und einige Monate später auch die Mutter mit den Kindern ins Elsass zurück. Im Jahr 1800 erwarb das Ehepaar ein verwahrlostes Landgut in Krautergersheim bei Straßburg, das Elisabeth in eine hübsche Sommerresidenz verwandelte. Dabei legte sie auch selbst Hand an: Die Zimmer wurden von ihr eigenhändig tapeziert. Ihr Mann machte unterdessen eine Doppel-Karriere in Deutschland und Frankreich: 1809-10 lebte er als badischer Finanzminister in Karlsruhe, 1815 ging er als Abgeordneter nach Paris. Elisabeth, die sich in ihren Briefen über die häufigen Trennungen beklagte, starb 1817 im Alter von nur 59 Jahren in Krautergersheim. Sie liegt in der dortigen Familienkapelle der Turckheims begraben.