Auf den Spuren von Casanova im Elsass und in Lothringen

Von Rainer Petto

Casanova, um 1774

Casanova, um 1774

Der große italienische Liebhaber und Abenteurer in Metz, in Straßburg, im kleinen elsässischen Badeort Soultzbach-les-Bains? Was hat ihn dorthin verschlagen? Was hat er dort getrieben?

Giacomo Casanova ist in seinem Leben viel herumgekommen. Aber als ich seine Memoiren lese und entdecke, dass er auch im Elsass und in Lothringen gewesen ist, bin ich überrascht. Ist dem schon einmal jemand nachgegangen? Ich finde nichts. Also mache ich mich selbst auf die Suche.

1756 ist Casanova zum ersten Mal in Straßburg. Er ist 31 Jahre alt, am 1. November ist ihm die spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis des venezianischen Staatsinquisition, den so genannten Bleikammern unter dem Dach des Dogenpalastes, gelungen. Fünfzehn Monate lang war er wegen „Schmähungen gegen die heilige Religion“ eingekerkert gewesen. In München hat er sich von seinem Fluchtgefährten, dem Mönch Balbi, getrennt und ist einer gewissen Madame de Rivière begegnet, die er von einem früheren Paris-Aufenthalt her kennt. Die Witwe eines Adjutanten des polnischen Königs schlägt Casanova vor, mit ihr in die französische Hauptstadt zu reisen. Er will ohnehin nach Paris, um dort, wie er im Rückblick schreibt, sein „Glück in der Laufbahn des Abenteurers“ zu suchen. Es wird ihm gelingen: Er zieht in Paris eine Lotterie auf, die ihm ein Vermögen einbringt.

Die Reise führt ihn über Straßburg. Die Stadt steht seit der Besetzung durch die Truppen Ludwigs XIV. im Jahre 1681 unter französischer Verwaltung, ist aber doch noch stark von deutscher Kultur geprägt und genießt Sonderrechte.

Sein erster Aufenthalt in der Stadt ist Casanova später nur anderthalb Sätze wert. Besondere Abenteuer scheint er hier nicht erlebt zu haben, auch nicht mit Madame de Rivière, die ihn samt ihrer reizenden Familie „mit allen Anzeichen wahrer Freude“ empfängt und mit der er dann noch „einige Tage“ verbringt.

Aber ein Hinweis ist von kulturgeschichtlichem Interesse – der Hinweis auf den Gasthof, in dem Casanova absteigt. Denn in der „Auberge de l’Esprit“, dem Gasthof „Zum Geist“, haben tatsächlich etliche durchreisende Menschen von Geist gewohnt. 1306 wird der Gasthof zum ersten Mal erwähnt, 1519 kauft ihn Thiebault Brant, wahrscheinlich ein Neffe des „Narrenschiff“-Dichters Sebastian Brant.

Das ehem. Hotel de l'Esprit in Straßburg

Das ehem. Hotel de l’Esprit in Straßburg

Unter anderem soll Rousseau, neun Jahre nach Casanova, in diesem Hotel gewohnt haben – so ist es jedenfalls hier und da immer noch zu lesen, obwohl ein gewisser Dr. M. Mutterer das schon 1904 widerlegt hat: Jean-Jacques Rousseau, wegen der Religionskritik in seinem Erziehungsroman „Émile“ von den französischen Behörden verfolgt, hat zwar in einem Brief die Absicht geäußert, in dem berühmten Hotel zu logieren, ist dann aber im November 1765 in der „Auberge de la Fleur“ in der rue de la Douane abgestiegen.

Aber der Student Johann Wolfgang Goethe, der 1770 nach Straßburg kommt, um endlich sein Jura-Studium abzuschließen, wohnt tatsächlich im „Gasthof zum Geist“, wo er einen anderen großen Geist trifft, seinen späteren Freund, den Schriftsteller und Philosophen Johann Gottfried Herder. Später bezieht Goethe eine Wohnung Am Alten Fischmarkt Nr. 36 (siehe die Erinnerungsplakette am 2. Stock).

Ruelle de l'Esprit in Straßburg

Ruelle de l’Esprit in Straßburg

Goethe-Spurensucher verorten den Gasthof „de l’Esprit“ in der ruelle de l’Esprit. In diesem engen Seitengässchen sollen Goethe, zwar noch ein Nobody, aber der Sohn wohlhabender Eltern, und Casanova, der Weltmann, Quartier bezogen haben? Sehr unwahrscheinlich. Ich frage beim Straßburger Stadtarchiv an, wo sich der Gasthof befunden hat. Es kommt der Hinweis auf ein undatiertes Foto des Gebäudes mit Angabe der genauen Adresse: Quai Saint-Thomas No 7. Das Foto zeigt ein damals wohl schon ein bisschen heruntergekommenes 5-stöckiges Gebäude in schöner Lage, nämlich am Ufer der Ill. Es ist laut Auskunft des Stadtarchivs 1932 abgerissen worden, ein spätes Opfer des sogenannten Großen Straßendurchbruchs („Grande Percée“), bei dem eine 18 Meter breite Verkehrsader durch die Altstadt geschlagen wird.

Das Haus in der Mitte des Bildes, Nr. 6 a, blieb bis heute erhalten, rechts daneben die Nr. 7, das ehemalige Hotel, wurde durch einen Neubau aus roten Sandsteinquadern ersetzt, der zur Zeit im Parterre einen Unicef-Laden und ein „Laboratoire de Biologie“ beherbergt. Aber auch ohne das „Hotel de l‘Esprit“ ist hier, am Rande des Viertels La Petite France, der Geist, die Atmosphäre des 18. Jahrhunderts noch gut nachvollziehbar.   

Casanova ist noch einmal in Straßburg, fünf Jahre später, 1761. Er kommt von Paris und befindet auf dem Weg nach Augsburg, er nennt sich jetzt Chevalier de Seingalt und ist in offizieller Mission unterwegs. Als Vertreter Portugals will er am Augsburger Kongress teilnehmen, der im Sommer zusammentreten und Europa den Frieden, das Ende des Siebenjährigen Krieges, bringen soll; der Kongress wird nie stattfinden. Diesmal wohnt er im Hotel du Corbeau. Dieser Gasthof „Zum Raben“ ist um eine Nuance bescheidener als der „Heilige Geist“, aber ebenso traditionsreich. Hier nimmt man Quartier, wenn man unerkannt werden will, wie Friedrich der Große, der hier 1740 als Comte Dufour absteigt, oder wie Kaiser Joseph II., der sich 1777 als Graf Falkenstein ins Gästebuch einträgt.

Straßburg, Hotel Cour du Corbeau

Straßburg, Hotel Cour du Corbeau

Und dieses Hotel gibt es noch. Der Gebäudekomplex mit den Fachwerkgebäuden und den hölzernen Balkonen ist den Weg auf die andere Seite der Ill in die rue des Couples wert. Es ist ein traditionsbewusstes Haus. Auf der Homepage lesen wir, dass es sich um eines der ältesten Hotels in Europa und eines der schönsten Ensembles aus der Renaissance handelt, von Anfang an als Hotel gebaut, eröffnet 1528 unter dem Namen „Zum Rappen“ („Rappe“ = „Rabe“). 1854 schließt das Hotel, 1959 wird es als Wirtshaus mit der historischen Innenausstattung wieder eröffnet. Stolz werden auf der Hotel-Homepage die Namen historischer Persönlichkeiten aufgezählt, die hier zu Gast waren. Casanova fehlt – aus Unkenntnis, oder weil er als zu unseriös gilt?

Straßburg, Quai Saint-Thomas, rechts Neubau an Stelle des Hotel de l'Esprit

Straßburg, Quai Saint-Thomas, rechts Neubau an Stelle des Hotel de l’Esprit

Übrigens, auch das Hotel de L’Esprit betritt Casanova diesmal wieder. Denn dort wartet eine schöne Frau auf ihn, Catherine Renaud. Sie war Tänzerin am Theater, acht Jahre zuvor in Dresden hat Casanova sie reizend gefunden. Doch damals war sie in festen Händen: „Ich hatte nicht einmal versucht, ihr den Hof zu machen.“ Nun wartet sie im Hotel auf ihn, um mit ihm gemeinsam nach Augsburg zu fahren. „Es dauerte nicht lange, und wir wurden intim.“ Aber es dauert auch nicht lange, da hat sie ihn um sein Geld und um seine Gesundheit gebracht.

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Von Augsburg aus reist Casanova nach Paris. Dort trifft er Madame d’Urfé, für ihn eine „prachtvolle Verrückte“ und ein ergiebiges Opfer seiner Betrügerei. Er gaukelt ihr vor, er könne – was ihr sehnlichster Wunsch ist – ihre Wiedergeburt als Mann bewirken. Bei diesem Ritual ist er angeblich auf die Mitwirkung einer Jungfrau angewiesen, und so bestellt er sich auf Kosten der gutgläubigen d’Urfè die durchtriebene Tänzerin Marianne Corticelli nach Metz.

Das Metzer Operntheater

Das Metzer Operntheater

Ende Januar 1762 kommt Casanova in Metz an und nimmt Quartier im „König Dagobert“, einem Gasthof, dem Casanova das Prädikat „ausgezeichnet“ verleiht. „Nach vier oder fünf Tagen kannte ich die ganze Stadt; aber ich stahl mich aus den Gesellschaften fort, um ins Theater zu gehen“.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sieht Metz noch aus wie im Mittelalter: enge Straßen, kein zentraler großer Platz, keine modernen, funktionalen Gebäude. Seit den 20er Jahren gibt es dann einen städtebaulichen Aufbruch, 1752 wird das Theater erbaut. Heute ist es das älteste noch bespielte Theater Frankreichs.

Casanova geht weniger wegen des Kunstgenusses in das neue Metzer Theater, sondern weil ihn eine Schauspielerin der Komischen Oper für sich eingenommen hat. Die junge Frau namens Raton, die angeblich erst fünfzehn ist, hat – so berichtet Casanova – „ihre Entjungferung zu einem Preis von fünfundzwanzig Louis ausgeschrieben“. Sie hat schon mehreren Offizieren und Parlamentsräten das Geld aus der Tasche gezogen. Das reizt einen Mann wie Casanova natürlich. Der erfahrene Liebhaber durchschaut ihren Trick, es gelingt ihr nicht, sich ihm zu entziehen. Er hat sie zum Souper in sein Hotelzimmer eingeladen, und als sie „merkte, dass ihre List nicht verfangen würde, kam sie meinem Verlangen entgegen“. Schauplatz: das „Roy Dagobert“.

Ich fahre an einem schönen Tag im September nach Metz. Dort mache ich mich zu Fuß auf den Weg, orientiere mich zunächst an der Kathedrale, gehe von dort aus über die Brücke zur Insel, auf der das Operntheater steht, überquere einen weiteren Moselarm und komme schließlich zur Place de la Bibliothèque.

Metz, rue de la Tete d'Or

Metz, rue de la Tete d’Or

Eine Mitarbeiterin der modernen Mediathèque holt mir aus dem Magazin die alte Broschüre von J.-J. Barbé über die ehemaligen Hotels von Metz. Und da findet sich auch etwas über das „Roy Dagobert“. Das Hotel hat von 1715 bis zum Beginn des 19. Jahrhundert existiert, und zwar in der rue de la Tête d’Or Nummer 34.

Ich will sehen, ob ich in der Rue de la Tête d’Or noch irgendeinen Hinweis auf das ehemalige Hotel finde. Auf der Seite mit den geraden Hausnummern befindet in Nr. 32 der Laden eines edlen Feinkostgeschäfts. Daneben ein Tabak- und Schreibwarenladen, Nr. 36, die Ziffer 3 ist weg, die 6 hängt noch kopfüber an einer Schraube fest. Und wo ist die Nr. 34? Ich sehe keinen Platz für ein weiteres Haus, keine Lücke, die Nummern 32 und 36 schließen unmittelbar aneinander an.

Ich gehe in die Läden. Die Frau im Laden des Traiteurs ist über meine Frage ebenso erstaunt wie der Mann an der Kasse des Schreibwarenladens. Ihnen ist noch nicht aufgefallen, dass neben ihnen eine Hausnummer fehlt. Gerade kommt der Briefträger, ich spreche ihn an. Nein, bestätigt er, es existiert keine Nr. 34. Ich schreibe ans Metzer Stadtarchiv. Des Rätsels Lösung: Der Neubau von Nr. 36 reicht bis auf das Grundstück von Nr. 34.

Das Gebäude, in dem Casanova genächtigt hat, ist also spurlos verschwunden. Aber ein Ausflug nach Metz lohnt sich immer.

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200 Kilometer von Saarbrücken, zwischen Colmar und Munster, ein kleiner Ort abseits der D 417, im vorderen Krebsbachtal, nur 741 Einwohner, aber ein hochtrabender Name: Soultzbach-les-Bains (nicht zu verwechseln mit dem gar nicht weit entfernten Soultz-les-Bains). Ein Badeort im Elsass, im Département Haut-Rhin? Und hier war Casanova?

Soultzbach-les-Bains

Soultzbach-les-Bains

Soultzbach-les-Bains, so kann man nachlesen, ist im 17. und 18. Jahrhundert ein bekannter Badeort. Die Wasser seiner Mineralquellen findet Anwendung gegen Anämie und Verdauungsstörungen. Es ist nicht überliefert, ob Casanova an dem gesunden Wasser auch nur genippt hat, er teilt nur mit, dass er sich „an diesem traurigen Ort gelangweilt“ hätte – wenn da nicht das Kartenspiel gewesen wäre. Und so geht das kleine Soultzbach-les-Bains denn in die Weltliteratur ein als Austragungsort eines Kartenspiel-Marathons. Aber natürlich geht es bei Casanova auch um eine Frau, eine „reizende Straßburgerin“.

Er kommt mit Madame d‘Urfé von Metz, wo er sich diesmal nicht länger aufgehalten, keine Besuche gemacht hat. Sie machen in Soultzbach Zwischenstation, ein Bekannter der d’Urfé, Baron Schaumbourg (wohl identisch mit dem ortsansässigen Schauenburg) hat sie dorthin eingeladen. Im Ort trifft der 56 oder 57jährige auf „drei oder vier Spieler, die angeblich wegen der Heilquellen gekommen“ sind, und eben jene reizende Madame Saxe aus Straßburg. Sie befindet sich in Begleitung eines zu starker Eifersucht neigenden Offiziers namens d‘Entragues – eine Herausforderung für Casanova. Er bietet dem guten Mann eine Wette an: Sie spielen Karten, und wer zuerst aufhört, soll dem anderen die erkleckliche Summe von fünfzig Louis zahlen. Um drei Uhr nachmittags fangen sie an, und als der Offizier um neun zu Abend essen will, sagt Casanova, er habe keinen Hunger, aber wenn d‘Entragues aufhören wolle, habe er die Wette verloren. Der Mann macht weiter, sie spielen die ganze Nacht hindurch, am Morgen nehmen beide eine Tasse Schokolade zu sich. Sie übergehen das Mittagessen. Am Abend sieht d’Entragues aus wie ein Leichnam, während sein Herausforderer noch recht frisch aussieht. Als die schöne Madame Saxe die beiden zum Aufhören drängt, antwortet Casanova, er sei untröstlich, den Bitten einer so reizenden Frau, die jedes noch so große Opfer wert sei, nicht nachgeben zu können, aber hier gehe es ums Prinzip.

Wieder spielen sie die Nacht durch. Am nächsten Morgen wird d’Entragues ohnmächtig und muss fortgetragen werden. Casanova hat gewonnen, er schläft sich gründlich aus und speist dann mit gutem Appetit. Er hat das Spiel gewonnen, nicht die schöne Frau, aber es ist ihm eine Genugtuung, ihren Liebhaber gedemütigt zu haben.

Soultzbach-les-Bains

Soultzbach-les-Bains

237 Jahre nach Casanova, ein Herbsttag, kühl, windig, ab und zu Nieselschauer, als ich mich nach Soultzbach-les-Bains aufmache. Und schon auf den ersten Blick merke ich, die lange Anfahrt hat sich gelohnt. Das Dorf, das bereits 1211 erwähnt wurde und 1275 mit Mauern und Graben befestigt wurde, hat bis heute, mit seinen engen verwinkelten engen Gassen und seinen traditionellen Häusern seinen mittelalterlichen Charakter bewahrt.

1289 wird zum ersten Mal das Schloss namentlich erwähnt; es wird zunächst von der Familie Hattstatt bewohnt, nach dem Aussterben des Geschlechts der Hattstatt geht der Besitz an die Schauenbourg über. Das Schloss steht noch am Ortsrand, es ist von außen eher unansehnlich, besichtigen kann man es nicht, es wird privat genutzt.

Ansonsten hat der Ort kunstgeschichtlich Interessierten einiges zu bieten. Der Chor der Pfarrkirche St. Jean-Baptiste aus dem 15. und 16. Jahrhundert beherbergt einen der schönsten Wandtabernakel des Elsass (um 1500), außerdem drei Barockaltäre und eine Callinet-Orgel von 1833. Die Kirche liegt etwas abseits auf einem Hügel, bei unserem Besuch ist sie verschlossen.

Soultzbach-les-Bains, Rue des Bains

Soultzbach-les-Bains, Rue des Bains

Mitten im Dorf liegt die Barock-Kapelle Sainte Cathérine mit zwei Gemälden von Franz Georg Hermann. Direkt gegenüber der Löwenbrunnen von 1601. Und in der Grand’rue und der rue de la Chapelle die Häuser mit den geschnitzten Figuren an der Fassade, die böse Geister abschrecken sollten.

Man kann sich gut vorstellen, dass dieses Soultzbach auch zu seinen Glanzzeiten kein mondäner Ort gewesen ist, sondern eher ein Geheimtipp für Menschen, die in ländlich-gepflegter Atmosphäre abseits des städtischen Rummels ihre Ruhe suchten. Von dieser Epoche zeugt noch ein Straßenname: rue des Bains. Ansonsten: keine Spuren des einstigen Badebetriebs, schon gar keine von Casanova.

Aber Casanova verdanken wir die Entdeckung eines wunderschönen elsässischen Dorfes, das wir ohne seine Memoiren nie kennengelernt hätten.

Geschrieben im Dezember 2019