Svenja Becker

geb. 01.Febr. 1967 in Kusel

Becker, Svenja - Foto: Meendert Buurman

Foto: Meendert Buurman

Sie übersetzt fast ausschließlich Prosatexte aus dem Spanischen: von den Romanen der grande dame der lateinamerikanischen Literatur, Isabel Allende, über Werke junger Autorinnen oder ein feministisches Manifest bis hin zu einer Kinderbuchreihe. Dabei hatte Svenja Becker zunächst einen ganz anderen Berufsweg eingeschlagen.

In Kusel, wo sie geboren und aufgewachsen ist, macht sie 1986 ihr Abitur, um anschließend an der Münsterbauhütte in Schwäbisch Gmünd eine zweijährige Ausbildung zur Steinmetzgesellin zu absolvieren. Sie verbringt neun Monate in Quito, Ecuador, wo sie mit Straßenkindern arbeitet; zurück in Deutschland Arbeit als Steinmetzin und Kneipenkollektivistin, bevor sie 1992 nach Saarbrücken kommt, um ein Studium der Volkswirtschaftslehre (VWL-Diplom 1999) und der Spanischen Sprach- und Literaturwissenschaft aufzunehmen. Gleichzeitig (1995–97) nimmt sie am „Arbeitskreis Literarisches Übersetzen“ unter der Leitung von Wilfried Böhringer teil. Da liegt der eigentliche Schwerpunkt ihrer Interessen.

„Hundert Jahre Einsamkeit“

„Angefangen hat es mit ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘. García Márquez hat ‘82 den Nobelpreis bekommen, danach habe ich fast alles von ihm gelesen. Außerdem mit den Gedichten von Pablo Neruda – damals war ich fünfzehn, sechzehn. In Spanien – also das Land – verliebt habe ich mich mit zwanzig. Da war ich zum ersten Mal dort. Hierzulande haben Menschen meiner Generation ja Nazi-Großeltern. In Spanien hat aber mindestens die Hälfte Großeltern, die Anarchisten waren oder sind – das hat was enorm Befreiendes.“

2000 erscheinen erste literarische Übersetzungen:  Erzählungen aus Puerto Rico in der Vierteljahresschrift für Literatur, Kunst und Kritik „Die Horen“; Reportagen und Erzählungen von Gabriel García Márquez (zusammen mit Astrid Böhringer u.a.) im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Und schließlich arbeitet sie an der Übertragung von Eugenio Fuentes‘ (Eugenio Fuentes Pulido, geb. 1958 in der spanischen Extremadura) mit dem Premio Alba/Prensa Canaria ausgezeichnetem Kriminalroman „Mörderwald“, der 2002 bei Klett-Cotta erscheint.

Isabel Allende

Das Jahr 2002 ist auch in anderer Hinsicht von Bedeutung für Beckers Tätigkeit; es markiert den Beginn einer anhaltenden Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag, der auch Isabel Allende zu seinen Autorinnen zählt. Von 2002 an übersetzt Svenja Becker alle bei Suhrkamp erscheinenden Romane und Langerzählungen Allendes. Die chilenisch-US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin (eine Nichte zweiten Grads des ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende) ist die mit Abstand erfolgreichste Autorin ihres Kontinents; ihre Bücher werden in 35 Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von 50 Millionen Exemplaren überschritten.

„Was ich an Allende mag, neben ihrer Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und pointiert Szenen zu schreiben: Ihren Humor. Sie kann einfach wunderbar trocken komisch sein.“ Allende mag keine überragende „Sprachkünstlerin“ (Becker) sein, diese Qualität findet sich vielleicht eher bei Juan Carlos Onetti (1909–1994), in dem sie neben Jorge Luis Borges einen „Großmeister der Moderne“ sieht. Onetti wuchs in Montevideo, Uruguay, auf, arbeitete als Journalist in seiner Heimatstadt und in Buenos Aires, las Werke von US-amerikanischen Autoren wie John Dos Passos und William Faulkner und verfasste selbst elf Romane und einige Erzählungen. Für Becker ist er „ein gnadenloser Beobachter …ohne zu werten, ohne zweifelhafte moralische Kriterien zugrunde zu legen.“ 2009 erscheint ihre Übersetzung von Onettis Roman „Für diese Nacht“ bei Suhrkamp. „Dieser dunkel-grelle, fast expressionistisch ausgeleuchtete Roman aus dem europäischen Kriegsjahr 1943 ist ein riskantes Unternehmen des noch jungen Autors Juan Carlos Onetti: Kann ich mich politischem Irrsinn entziehen? Wie schuldig werde ich, wenn ich mich nicht einmische? Für diese Nacht ist Onettis politischster und spannendster Roman – ein Buch von existentieller Eindringlichkeit“ (Verlagsinformation).

Die Kindeskinder europäischer Eroberer

Im Lauf ihrer beruflichen Praxis kommt Svenja Becker in Kontakt mit Autoren aus vielen verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Sie unternimmt Reisen nach Ecuador, Mexiko, Chile, Uruguay und Argentinien. Die (indigenen) Kulturen dieser Länder mögen eher heterogen sein; die Literatur, die hierzulande wahrgenommen wird, aus Beckers Sicht nicht. „Die entstammt ja einer an europäischen und nordamerikanischen Autorinnen ‚geschulten‘, überwiegend weißen Intellektuellenschicht. Verfasst in einer romanischen Sprache. Die Autoren des lateinamerikanischen Booms haben Joyce gelesen, Proust und vor allem Faulkner. Sie haben in Paris und Barcelona gelebt. Und die heutigen leben wieder dort oder in den USA und vor allem in Berlin… Mir scheint, diese Kulturdebatten gehen an der Wirklichkeit, jedenfalls was diesen Erdteil angeht, vorbei. Wir haben es doch mit den Kindeskindern europäischer Eroberer und Auswanderer zu tun. Der Braindrain aus Spanien nach dem Sieg der Franquisten hatte einen enormen Einfluss auf die Literatur dort. Die indigenen Kulturen, die natürlich vorhanden und vielfältig sind, werden ja, wenn überhaupt, erst heute langsam jenseits von Folklore wahrgenommen“.

Der Indigenismus, der beispielsweise Beckers Kollegen und Lehrer an der Saar-Uni, Wilfried Böhringer, fasziniert hatte, findet sich kaum wieder in den Programmen deutscher Verlage. Mangelndes Interesse bei den Lesern, ein zu großes wirtschaftliches Risiko – über die Gründe kann man spekulieren. Immerhin wagt es das eine oder andere Verlagshaus, neben den „etablierten“ auch junge Autoren und Autorinnen ins Programm zu nehmen, die sich noch nicht als künftige Literaturnobelpreisträgerinnen ausgewiesen haben. 2016 übersetzt Svenja Becker den Roman „Auch das wird vergehen“ der 1972 in Barcelona geborenen Milena Busquets; 2018 Frida Kahlo , eine Graphic Novel von Maria Hesse (geboren 1982 in Huelva); 2021 folgt „Im Park der prächtigen Schwestern“, das Romandebüt der 1982 in Argentinien geborenen Camila Sosa Villada.

Menschen können einander verstehen

Für Becker ist Sosa Villada „eine große Hoffnung. Ihr Debütroman erzählt von einer Gruppe von trans Prostituierten in einem Stadtpark von Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens. Das Buch ist autobiografisch fundiert, aber kein Betroffenenbericht, sondern Fiktion. Die Autorin zieht literarisch alle Register, von überbordend schwelgerisch bis nüchtern karg. Es ist ein Text über Marginalisierung – als Kind aus einem armen Elternhaus, als transgender, als nicht-weiß – und über Widerstand. Der Magische Realismus wird bei Sosa Villada zu einem Mittel der Traumabewältigung, darin erinnert sie mich weniger an García Márquez als an Coloson Whitehead (zweifacher Pulitzerpreisträger und Autor von The Underground Railroad / Anm. pmk). Ich kann nur hoffen, dass sie weiter schreibt. Ihr Debüt ist in Argentinien ein Riesenerfolg und mittlerweile auch auf Norwegisch und Französisch erschienen.“

„Als Übersetzerin bin ich quasi genuin davon überzeugt, dass Menschen, egal wie verschieden sie sind, einander verstehen können. Das Großartige an Literatur ist ja gerade, dass sie uns in Lebenswelten mitnimmt, die nicht die eigenen sind, dass sie uns Erfahrungen jenseits der eigenen Begrenztheit ermöglicht.“

2014 veröffentlicht die aus Barcelona stammende Isabel Sánchez Vegara ein Buch, das eigentlich als Geburtstagsgeschenk für ihre Nichten gedacht war – und zum ersten Band der heute beliebten Kinderbuchserie  „Little People, BIG DREAMS“ wird. Die Reihe wird in über zwanzig Sprachen übersetzt; seit 2019 erscheint sie in der Übersetzung von Svenja Becker im Insel Verlag. „‘Little People, BIG DREAMS‘ erzählt von den beeindruckenden Lebensgeschichten großer Menschen. Jede dieser Persönlichkeiten, ob Malerin, Sänger oder Architektin hat Unvorstellbares erreicht. Dabei begann alles, als sie noch klein waren: mit großen Träumen“ (Verlagsinformation). Astrid Lindgren, Bob Dylan oder Coco Chanel sind ebenso vertreten, wie Martin Luther King, Anne Frank und Greta Thunberg. Mehr als zwei Dutzend dieser Mini-Biografien (je ca. 34 Seiten mit liebevollen Illustrationen) hat Becker übersetzt. Sprachlich sind diese Bändchen schon für Vierjährige geeignet (zum Vorlesen und gemeinsamen Anschauen); allerdings bieten die spanischen Originale nicht immer die Informationen, die beispielsweise deutsch „sozialisierte“ Kinder brauchen. Die Arbeit an diesen Texten nennt Becker deshalb „eine Mischung aus Übersetzen und selber Schreiben.“

Becker, die seit 1992 in Saarbrücken lebt, ist Mitorganisatorin von zweisprachigen Workshops in Tarazona (Spanien), Buenos Aires und Looren (Schweiz); seit 2012 Leiterin des Seminars „Zur Seite gesprungen“ des DÜF (Deutscher Übersetzerfonds) zusammen mit dem Berliner Lektor und Übersetzer Jürgen Dormagen.

„Übersetzen ist ständiges Entscheiden. Dieses Entscheiden ist schön und anstrengend, es braucht Kriterien, Mut und Kreativität. Ich kann sechs Stunden am Bildschirm sitzen, die gute Idee aber danach beim Laufen haben. Oder beim Lesen vorm Einschlafen auf etwas stoßen, das sich verwenden lässt. Oder im Kino einen Dialog hören, der das Stichwort gibt. Ich arbeite immer… Ich finde diese Arbeit erfüllend.“
(pmk)