Wallerfangen

 

Um 500 v. Chr. ein keltischer Fürstensitz, vor mehr als tausend Jahren Uualdervinga im Herzogtum Oberlothringen, später als Vaudrevange französisch, nach 1815 als Wallerfangen preußisch, heute ein Ort im Saarland, Bundesrepublik Deutschland, auf dem linken Ufer der Saar direkt an der Grenze zu Frankreich, im Landkreis Saarlouis.

Seit 1974 benennt Wallerfangen eine Großgemeinde mit elf Ortsteilen: Wallerfangen, Oberlimberg, St. Barbara, Gisingen, Rammelfangen, Ihn, Leidingen, Ittersdorf, Bedersdorf, Kerlingen und Düren. Sie sind Tore zum Saargau, zu Gustav Reglers „Niemandsland“. Alfred Gulden lebt hier, wie es sich gehört in historischem Gemäuer, und auch der Gründungsrektor der HBK Saar Jo Enzweiler, Sohn des Schriftstellers Matthias Enzweiler. Mit Harro Wilhelm hat Wallerfangen sogar einen (in Mundart) dichtenden Gärtner.

Der Festungsarchitekt Ludwigs XIV., Sébastien le Prestre de Vauban, weiß Wikipedia, erarbeitete 1680 in Vaudrevange die Anweisungen zum Bau der Festungsstadt Saarlouis. 146 Jahre nach ihm kam Preußens Baumeister Karl Friedrich Schinkel aus Mettlach über die Saar herüber, um die Keramikfabrik in Wallerfangen zu besuchen. Ende des 18. Jahrhunderts zog auch die Familie de Lasalle von Louisenthal hierher; 1807 zog sie nach Schloss Dagstuhl um. Mehr oder weniger freiwillige Gäste der Keramikfabrik waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Beatrix Adler in Saarlouis “angeworbene Kriegsgefangene” aus England, Porzellanfacharbeiter u.a. aus Stoke-on-Trent, die ihre Kenntnisse nun dem Werk in Wallerfangen zur Verfügung stellten. Der romantische Dichter-Komponist Peter Cornelius (1824 – 1874) schließlich kreierte, wie der Jurist und Heimathistoriker Hans Neis herausfand, 1853 in Wallerfangen sechs seiner Lieder, als er bei seinem Schwager zu Besuch weilte.

Der Ortsteil Oberlimberg wurde bekannt durch seine Wallfahrt, der Ortsteil Gisingen wegen seines Grüns: Hier eröffnete 1965 der erste Golfplatz im Saarland. St. Barbara, benannt nach der Schutzheiligen der Bergleute, ist bekannt wegen seiner Erdbeeren und wegen des Emilianus-Stollens, in dem die Römer vor fast 2000 Jahren kupferhaltigen Azurit und Malachit förderten. Aus dem Azurit gewannen sie einen Farbstoff, der europaweit exportiert und später vielleicht von italienischen Meistern der Renaissance oder von Albrecht Dürer in Nürnberg verwendet wurde – das Wallerfanger Blau.

Als Symbol für die wechselhafte Geschichte der Region und ihr ständiges Hin und Her zwischen zwei verfeindeten Großmächten darf der Ortsteil Leidingen gelten, spätestens seit Alfred Gulden ihn literarisch und filmisch verewigte. Hier verläuft die heute unsichtbare Staatsgrenze durch eine Straßenmitte: hüben Deutschland, drüben Frankreich.

Anfang des 14. Jahrhunderts (das genaue Datum ist nicht bekannt) erhielt Wallerfangen die Stadtrechte und war als Provinzhauptstadt des Herzogtums Lothringen von einer Stadtmauer umgeben. Im Dreißgjährigen Krieg und den anschließenden Kriegen zwischen Frankreich, Lothringen und den Niederlanden wurde die kleine Stadt mit ihrer Umgebung verwüstet, von Plünderungen, Hungersnöten und Seuchen heimgesucht. Der Sonnenkönig reduzierte sie zugunsten seines neuen Machtzentrums in der 1680 gegründeten Festung Saarlouis vollends auf eine Kleinsiedlung, indem er die Wallerfangener Bevölkerung in die neue Stadt umsiedeln und die Steine ihrer Häuser als Baumaterial für neue Saarlouiser Häuser verwenden ließ.

Von Papens Wiesen

Das heutige Wallerfangen ist bekannt auch für seinen Spargel und einen ins Auge fallenden Gutshof an der Hauptstraße, der einem der letzten Reichskanzler der Weimarer Republik, Franz von Papen (1879-1969), gehörte. Filmaufnahmen amerikanischer Kamerasoldaten belegen, dass Anfang Dezember Ende 1944 der Kommandierende der III. US-Armee General George S. Patton auf dem Anwesen kurzzeitig abstieg. Drei Wochen später brannte das von Papensche Schloss ab; es blieben nur die Wirtschaftsgebäude. Franz von Papen war Hitlers Vizekanzler, 1933 zum Ehrenbürger Wallerfangens ernannt und 1947 in einem Entnazifizierungsverfahren als Hauptschuldiger zu acht Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Er starb 1969 und erhielt sein Grab auf dem Friedhof von Wallerfangen.

„Über von Papens Wiesen“ fuhr der Opa von Andreas Drescher als Kind „auf einem hohen Leiterwagen nach Ihn“ zum Heu machen und um einen Hauch „Schlaraffenland“ zu spüren: „Man brauchte nur den Mund aufzusperren, schon baumelten einem die Kirschen hinein oben von den Zweigen.“ (Andreas Drescher, Kohlenhund, Saarlouis 2018, S. 166 f.) Die Wiesen und das Schloss mit Gutshof hatte von Papens Gattin Martha Octavia Marie von Boch-Galhau (1880-1961) mit in die Ehe gebracht. Sie war eine Erbin der Keramik-Dynastie Villeroy & Boch.

Die Villeroys und die Bochs

Diese entstand, als die Steingutfabrik von Nicolas Villeroy im einstigen Vaudrevange mit der Geschirrfabrik von Jean Francois Boch in Mettlach zum Keramikunternehmen Villeroy & Boch fusionierte, mit der Cristallerie in Wadgassen als erster gemeinsamer Gründung. Jean-Francois’ Sohn Eugen Boch (1809-1898) besiegelte die geschäftliche mit einer persönlichen Eheschließung, indem er 1842 Octavie de Villeroy aus Wallerfangen zur Frau nahm. Einen Nebenbau des Schlosses Villeroy de Galhau in Niederlimberg, die 1864 von dem aus Ottweiler stammenden Architekten Franz Georg Himpler (1833-1916) geschaffene neogotische Kapelle St. Joseph, ließ der Fabrikant 1878 Stein für Stein zerlegt nach Mettlach verschiffen und dort als Boch’sche Familienkapelle wieder aufbauen. Sie wurde in den 2000-er Jahren mit öffentlichen Zuschüssen aufwändig saniert.

Verlegen ließen Villeroy & Boch auch die Synagoge der jüdischen Gemeinde Wallerfangen. Als deren Standort 1890 für eine Ausdehnung des Werkes gebraucht wurde, ließ die Firma an der Gartenstraße/Ecke Saarstraße eine neue Synagoge bauen. Sie wurde Ende Februar 1893 eingeweiht. Der kleine Bau überlebte die Pogromnacht von 1938 unbeschädigt, im Gegensatz zu den Gemeindemitgliedern. Sie wurden in alle Winde zerstreut, von den Nazi-Organen verschleppt und verschwanden auf Nimmerwiedersehen in den Vernichtungslagern.

Die Hirn-Gallenberg-Tour startet unweit

Ende 2017 hatte die Großgemeinde Wallerfangen rund 9300 Einwohner und Einwohnerinnen. Viele von ihnen arbeiten in den benachbarten großen Industriebetrieben, u.a. der Dillinger Hütte und den Ford Werken Saarlouis. Um die Vermittlung der reichen und kulturell bedeutenden Geschichte kümmert sich der Verein für Heimatforschung, der auch das Historische Museum Wallerfangen auf der Adolphshöhe betreibt. Jüngste Errungenschaft: die originalgetreue Rekonstruktion eines antiken Klangbleches namens Tintinnabulum.

Ein surreal angehauchtes Landschaftsbild rund um Wallerfangen hat uns 2015 Konstantin Ames hingehängt, der als Kind einige Jahre auf dem Gau verbrachte, in seinem heutigen Wohnsitz Berlin aber ohne den Blick auf sanft rollende Hügellandschaften unter weitem Himmel auskommen muss. Wenn er an die Stätten seiner Kindheit zurückkehrt, ist klar, dass ein Dichter wie er nicht einfach so spazieren geht. „Nahe Ittersdorf, ehem. Zollhaus“ steht es, sein alter-ego Icke, und spießt Impressionen auf: die“ Katzenaugen auf der L 354 über Ihn nach Niedaltdorf (Keltenhaus)“, einen berauschenden Trank kochende „Jungbauern in verwitterten Scheuern“, das „Grün des Kläranlagenseechens“, noch grüner „als das Grün in dem die Jungbullen (unnam Zaun duosch) stehn“, in der Ferne „die Kirche des Guldendorfes Leiding“ , vor sich ein verjährtes Werbeplakat für die „13.Grenzenlos-Messe/25.-27.10.2013/Spirit & Heilen“. Jungbauern traf er nicht, die waren alle schon älter. Stattdessen: „Unter all dem dieser Lehm und diese Wackersteine/ die man nicht erobern kann“. Am Schluss das Statement: „Die Hirn-Gallenberg-Tour startet unweit“. Die Höhen des Hirnbergs und des Gallenbergs umkurvt und verbindet ein Premium-Wanderweg rund um Rammelfangen. Dass dieser „unweit“ beginnt: eine Feststellung von so einsamer Unumstößlichkeit wie die in Loriots Literaturkritik zum Kursbuch: „In Saarbrücken Hauptbahnhof kann mit Anschluss nicht gerechnet werden.“ (IP)