Kastel-Staadt

Arno und Alice Schmidt in Kastel

Die zur Saar senkrecht abfallende Felswand östlich des Dorfes Kastel-Staadt grenzt an ein Sandsteinplateau, das von der anschließenden Hochfläche des Saargaus durch einen sieben bis acht Meter hohen Wall abgeriegelt war: ein strategisch wichtiger Platz für ein Castellum, eine Fluchtburg für die auf der anderen Saarseite gelegene Talsiedlung Serrig. „Das ganze Plateau ist eine weite Grabstätte römischen Lebens“, notierte schon Nikolaus Hocker 1855. Heute weiß man, dass dort oben an einer Römerstraße eine Siedlungskontinuität von den Kelten bis zu den Franken bestand. Das auf der Hochfläche liegende Kastel-Staadt ist urkundlich erstmals 1098 erwähnt.

Ins „schläfrige Dörfchen“ kamen Arno Schmidt und seine Frau Alice, beide Flüchtlinge aus dem polnisch besetzten Schlesien, im Dezember 1951. Der Flüchtlingsbetreuer in Saarburg hatte ihnen in einem Bauernhaus zwei Zimmer zugewiesen, beiderseits des Hausflurs und, wie damals üblich, mit Außenabort. Es war die Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders mit Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard unter Bundeskanzler Konrad Adenauer. Helmut Neises, damals etwa zehnjähriger Sohn der Herbergsleute, hat das stattliche Haus (heute Kirchstraße 18) sorgfältig restauriert und zu einer Pension ausgebaut; eine Tafel gedenkt der berühmt gewordenen Gäste. Sie hatten vier Jahre darin gehaust.

Helmut Neises erinnert sich

Foto des Autors am tisch sitzend

Helmut Neises

Die Einquartierung sei weder den Hausleuten noch den Flüchtlingen leicht gefallen. Während die Bauern die umliegenden Felder bestellten, Wein und Obst (für den Viez) anbauten, saßen die Schmidts im tagsüber fast menschenleeren Dorf bei ihrer Schreibarbeit. Eines der Zimmer war Schlafraum, Küche und Wohnraum zugleich, das andere war der Schreibarbeit vorbehalten, mit Schreibtisch, Schreibmaschine und Stuhl, und an den Wänden viele Bücher. Alice sei gesellig geworden, Arno ein Sonderling geblieben, aber zu jedermann freundlich. Alle Abende, am liebsten bei Mondschein, ging er spazieren, immer mit Notizblock und Bleistift. Es habe keine Probleme gegeben, nur wenn Arno mit seinen selbstgefertigten Holzsandalen nachts vorm Haus auf und ab lief, habe er seine Mutter um den Schlaf gebracht. Die Schmidts waren fleißige Leute und sehr arm. Manchmal sei ein Paket von Arnos Schwester aus Amerika gekommen, ab und zu habe seine Mutter Alice etwas zugesteckt. Die gegen Arno Schmidt erhobene Anklage habe sie nicht berührt. Sie hatten, wie alle im Dorf, kein Buch von ihm gelesen … .

... weit ging der Blick in eine Waldlandschaft: grüne Wiesen, waldige Höhen mit Felsen, dazwischen das blitzende Band der Saar. Ganz vereinzelt Ortschaften. Sommersonne darüber. Es war schön. […]. Wir waren in hellster Begeisterung. Hier müssen wir wohnen!“ Schreibt Alice Schmidt nach einer Vorbesichtigung am 11. September 1951 in ihr Tagebuch. Die Tagebücher von Alice schildern anschaulich und mittels aufgezeichneter Gespräche sehr lebendig das beschwerliche Leben des Ehepaars (nicht nur) in der Kasteler Zeit.

Die Euphorie hielt nicht lange an. Die Begeisterung seiner Frau für „das prächtige Stück Wildlandschaft“ kann Arno auf Dauer nicht teilen: „Das Gebirge hier ist nichts für mich. Eben u. flach muß es sein.“ Zitiert Alice am 4. Januar 1953 ihren Mann.

Mietvertrag und Foto vom jungen Helmut Neises mit Drachen (gebaut von Arno Schmidt).

„Da ist es sehr einsam, hinten an der Saar. Schluchten mit senkrechten Wänden aus triassischem Buntsandstein; haushohe Felskerle sperren den Weg, in rostroter Buschklepperrüstung, den riesigen Wackelstein als Schädel“. So beginnt Arno Schmidt seine Kurzgeschichte vom „Schlüsseltausch“. Sie spielt (wenn auch erst später geschrieben) in Kastel-Staadt und handelt von einer Schlüsselkleptomanin: Der Erzähler saß in seiner „einen Stube“ und bemerkte, wie sich der Schlüssel im Türschloss drehte. „Drehte: und verschwand! […] da war der Schlüssel weg! […] Jagd auf Braunes […] Hetzen auf Ackerwegen.“ Mit Erfolg. Die Diebin wurde ertappt, offensichtlich war sie eine Sammlerin „berühmter Schlüsseln“. Und worauf lief all das hinaus?: „ ‘Ach ja!’ sagte sie beruhigt. Zum Schlüsseltausch.“

Was auch im „Schlüsseltausch“ steht: „Noch dies zur Erklärung: ich lebe von den Revenuen meiner Schreibmaschine…“. (Das war weit über die Kasteler Zeit hinaus die bei einem Fahrradhändler in Fallingbostel 1949 gebraucht erstandene ORGA=PRIVAT.)
Mit Kurzgeschichten, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und gelegentlichen Übersetzungen englischer und amerikanischer Romane musste Arno Schmidt seinen und Alices Lebensunterhalt bestreiten. Der unbeliebte Broterwerb nimmt ihm die Zeit, „seine neuen Prosaformen zu erfinden und zu entwickeln.“ Hatte Arno Schmidt sich doch Januar 1947 entschlossen, als freier Schriftsteller zu leben. Es ist der Zuspruch seiner Frau, der ihn daran hindert, den „Beruf ganz an den Nagel [zu] hängen. Wäre ich doch ein kleiner Angestellter: Dann würde ich noch mal ein Mensch werden können.“ Zitiert Alice Arno am 7. September 1953.

Im November erläutert Arno Schmidt in 13 Paragraphen unter dem Titel „BERECHNUNGEN“ seine Poetologie. Das Motto: „Was ‚neue Prosaformen‘?/Wir haben doch den Roman!“ – /„Warum neue Wasserfahrzeuge?:/haben wir nicht das Floß?“
Erst im Juli 1955 verbesserte sich die finanzielle Lage: Für das „Radio-Essay“ im Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks liefert Arno Schmidt bis zu Beginn der 70er Jahre literarhistorische Arbeiten über „seine“ (es sind meist vergessene oder kaum bekannte) Autoren. Redakteur war der Schriftsteller Alfred Andersch.

In Kastel entstanden fünf Romane

schwartz weiß Foto, auf Stuhl sitzend, nach vorne gelegen

Foto: Alice Schmidt, © Arno Schmidt Stiftung

Bei einem Arbeitstag von – wie Arno Schmidt sagt – 14 Stunden entstanden in Kastel neben den Broterwerbsarbeiten immerhin fünf Romane und größere Erzählungen:

1952 „Die Umsiedler“, im Hintergrund der Umzug von Cordingen in der Lüneburger Heide nach Gau-Bickelheim in Rheinhessen Ende 1950: „Hier fehlt Keinem etwas, was dem Andern nicht gleichfalls mangelte: so sind wir alle Flüchtlinge!“

1952/53 „Aus dem Leben eines Fauns“

1953 „Seelandschaft mit Pocahontas“, die Geschichte einer flüchtigen Sommerliebe. (Der Kosename Procahontas ist einer „Indianerprinzessin“ entliehen. Geschrieben hat sie Arno Schmidt nach einem Kurzurlaub mit Alice in der Seelandschaft im Oldenburger Land. Und wie immer wurde ihm das Land – „und so fuhren wir daher, […] allein in der Riesenmuschel von Himmel und Dümmer“ – zur literarischen Topographie.
Die Reise nach „Dümmerlohausen“ beginnt am Bahnhof in Serrig:
„‘ Die Fahrkarten bitte‘ (und er wollte auch noch meinen Flüchtlingsausweis dazu sehen, ob ich der letzten Ermäßigung würdig sei). Die Saar hatte sich mit einem Nebelbaldachin geschmückt; Kinder badeten schreiend in den Buhnen; gegenüber Serrig (‚Halbe Stunde Zollaufenthalt!‘) dräute eine Sächsische Schweiz.“

1953/54 „Kosmas“

1954/55 „Das steinerne Herz“, entstanden nach einem Aufenthalt in Ost-Berlin, hat erstmals die deutsche Teilung zum Thema.

Die Schmidt‘sche „Schreibwerkstatt“ hatte ihr eigenes Arbeitsritual:
Der Niederschrift einer Erzählung, eines Romans gingen intensive und langwierige Recherchen über ihre Schauplätze voraus. Spontane Einfälle wurden auf aus Papierresten geschnittene Zettel notiert und in selbstgefertigten „Kästchen“ aufbewahrt, Grundrisse und Lagepläne gezeichnet und koloriert. Allein der Zettelkasten zu „Seelandschaft mit Pocahontas“ beinhaltet rund 700 Zettel. Neben Büchern waren auch dafür die Bretter an den Wänden des Arbeitszimmers.

Die „Seelandschaft“ erschien im ersten Heft der von Alfred Andersch ab 1955 herausgegebenen Zeitschrift „Texte und Zeichen“. Was Autor, Herausgeber und Verleger auf Betreiben des Kölner Erzbistums im April eine Anklage bei der Berliner Staatsanwaltschaft wegen Gotteslästerung und Pornographie einbrachte. Knapp ein halbes Jahr danach, am 24. September, verlegten Arno und Alice Schmidt wiederum ihren Wohnsitz. Mit Hilfe des Malers und Vorsitzenden der “Neuen Darmstädter Sezession” Eberhard Schlotter diesmal nach Darmstadt.

Sechs Tage zuvor noch, am „19. 9. 1955 gegen 4 Uhr Morgens“ hatte Arno Schmidt mit der Niederschrift von „Die Feuerstellung“ begonnen. Ihr Thema: Die Einrichtung einer Artilleriestellung nach Ausbruch des Dritten, jetzt atomar geführten Weltkriegs: „Ort: Kastel, Zeit: Winter 55/56?? 56/57??“

Das in Sütterlinschrift und mit Bleistift flüchtig geschriebene Manuskript besteht lediglich aus dreieinhalb Blatt DIN A 4. Ihm gingen bereits ein erster Entwurf und über fünfzig Notizzettel, meist auf DIN A 8 zurechtgeschnitten, voraus. Darunter zwei Personenverzeichnisse und zwei Handlungsentwürfe. Wovon einer eine Dauer von acht Tagen vorsieht: 1.Tag: „Ankommen v. Krutweiler in K.“; über vier Tage: „Einrichten“, „Atomübung“, „Appelle“, „Alarm“; 6. Tag: „Schießerei – Atombombe in die Saar: Alle vergiftet. – Ausfälle, immer weniger beim Antreten“; 7. Tag: „Noch 4 beim Apell“; 8. Tag: „Noch 2 Beim Morgen Apell […]“

Was als Roman geplant war, blieb Fragment. Arno Schmidt hat es, mitsamt den Zetteln, in einem Umschlag aufbewahrt. Dieser trägt den Titel:
Die Feuerstellung.
(Fragment vom Sommer 55)

Ruhe sanft!
ZITAT

Nachdem die Koffer gepackt waren, gingen Alice und Arno am 23. September ein letztes Mal zu ihrem Lieblingsplatz (der Aussichtsplattform am Soldatenfriedhof) und „nahmen Abschied: rechts unten das verträumte Hamm und links noch mal Saarburg. Ein hauchdünner schöner bläulicher Dunst lag drüber und über der Saar. Noch mal sehr schön! Ein komisches Gefühl doch! Und eine heimliche Träne mußte ich mir abwischen. Gut, daß’s so schnell ging und man kaum Zeit zum Überlegen hat!“ (Alice am 23. September 1955).

Am 3. Oktober 1955 bzw. 26. Juli 1956 wurde das Verfahren gegen Arno Schmidt eingestellt.