Hans Arnfrid Astel

geb. 9. Juli 1933 in München, gest. 12. März 2018 in Trier

Portraitfoto schwarz weiß

Foto: Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass/Marc Neuhauser

Astel hat sich in seinem literarischen Schaffen fast ganz auf die Form des kurzen Gedichts, insbesondere des Epigramms konzentriert, wobei ihm in der Frühphase geradezu sprichwörtlich gewordene Formulierungen gelingen. Als Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk verhilft Astel zahlreichen Autoren zu Öffentlichkeit. Aufsehen erregen 1971 seine fristlose Kündigung durch den SR und die darauf folgenden Arbeitsgerichtsprozesse.

Exkurs: Astels juristischer Kampf um seinen Arbeitsplatz

Arnfrid Astel, seit November 1966 beim Saarländischen Rundfunk als Programmgestalter in der Hauptabteilung Kulturelles Wort mit besonderen Schwerpunkt Literatur, kann ein Jahr später in die vakante Position des Abteilungsleiters Literatur aufrücken. Genießt er anfangs das Vertrauen von Intendant Dr. Franz Mai (CDU), dürfte sich dies spätestens 1968 mit dem Erscheinen von Astels Gedichtband „Notstand“ eingetrübt haben. Nicht nur, dass Wörter wie „Erektion“ oder „Scheiße“ nach Mais Verständnis in Lyrik nichts zu suchen gehabt haben. Es sind vor allem die politischen Gedichte zu den Notstandsgesetzen, dem Vietnamkrieg und zur Springer-Presse, die dem konservativen Senderpatriarchen bitter aufgestoßen sein müssen.

Eine besondere Rolle sollte ein in diesem Band veröffentlichtes Gedicht zu Kurt Georg Kiesinger spielen, dem Bundeskanzler mit der Nazi-Vergangenheit: „Heil Hitler / Hut ab / Kopf ab / Haut ab / Grüß Gott / Herr Kiesinger“.

Buchcover RotIm September 1969, in der Schlussphase der ersten Großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik, kommt Kiesinger zu einer Wahlkampfveranstaltung der CDU nach Saarbrücken. Was dort vorgefallen ist, erfährt Mai durch einen Brief von Erich Voltmer, dem Stellvertretenden Chefredakteur der „Saarbrücker Zeitung“ und Vorsitzenden des SR-Rundfunkrats, der sich hier sich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Saarländischen Journalistenverbandes über den Kollegen beschwert. Demnach hat Astel von der Pressetribüne aus missbilligende Zwischenrufe getätigt und Handzettel in den Saal geworfen. Der Text auf den Zetteln: das zitierte Kiesinger-Gedicht aus dem Band „Notstand“.

Nun glaubt Mai, eine Handhabe gegen den ihm längst unheimlich gewordenen Mitarbeiter zu haben, und erteilt ihm einen „Strengen Verweis“, weil Astel gegen das Prinzip der Neutralität von Vertretern der Presse auf derartigen Veranstaltungen verstoßen habe. Astel lässt das nicht auf sich sitzen, er geht juristisch gegen die Disziplinarmaßnahme vor, Mai muss den Verweis wieder aus der Personalakte streichen. Das Feld der juristischen Auseinandersetzung, auf dem sich für eine Zeitlang die Beziehungen zwischen Astel und dem Sender bewegen sollen, ist erstmals betreten.

1970 will Astel eine Sendung mit dem Ostberliner Lyriker Paul Wiens machen. Offenbar ist Astel mittlerweile auch als Programmmacher verdächtig, denn vorsichtshalber fragt Programmdirektor Dr. Wilhelm Zilius im Vorhinein beim Intendanten an, ob gegen diese Sendung Bedenken bestünden. Mai lässt sich die Texte vorlegen und findet in seinem Antwortschreiben an Zilius vom 13.8.70 Formulierungen, denen das Landesarbeitsgericht später mit verhaltener Ironie „Originalität“ und quasi literarische Qualität bescheinigen wird, so dass der Eindruck entstehe, die Weitergabe an einen größeren Personenkreis sei geradezu gewünscht worden. Mai hat unter anderem geschrieben: „Natürlich durften die Nerudas, Lumumbas und Togliattis nicht fehlen, die kleinen Heiligen kindlicher Träumer gesellschaftspolitischer Paradiese, fern der Erde, den Menschen und ihren Wirklichkeiten, aber sie sind in so viel lyrisches Chinesisch eingepackt, was natürlich Gedankentiefe gibt, weil alles Chinesisch gedankentief ist, so daß sie mir ungefährlich erscheinen.“ Er hat deshalb die Sendung im Prinzip genehmigt, bleibt aber misstrauisch und will auch die Zwischenansagen vorher vorgelegt bekommen.

Am 8. Juni 1971 tauchen Mais Formulierungen aus dem Schreiben an Zilius wörtlich in einem Artikel ihres Saarbrücker Korrespondenten Werner Deuker auf, den die „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift „Rundfunkfreiheit nur für den Herrn Intendanten?“ veröffentlicht. Nun holt Mai zum großen Schlag gegen den missliebigen Abteilungsleiter aus. Er unterstellt Astel, die Zitate weitergegeben zu haben, und spricht am 21.6.71 eine sofortige fristlose Kündigung aus. Astel muss das Betriebsgelände sofort verlassen. Er klagt gegen diese Kündigung, und es folgt eine Reihe von außerordentlichen und ordentlichen Kündigungen sowie Prozessen durch alle Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht, da der SR als Verlierer immer wieder in Revision geht.

„Entscheidenden Entlassungsgrund“ für den SR ist die angebliche Weitergabe von Dienstgeheimnissen, aber es wird auch noch einmal die Sache mit der Kiesinger-Veranstaltung angeführt (für die Richter ist der Fall erledigt), und auch der Literatur-Arbeitskreis in der JVA Ottweiler, den Astel zusammen mit dem gleichfalls einschlägig verdächtigen Hörspieldramaturgen Jochen Senf angeblich ohne Genehmigung des Arbeitgebers (die Gerichte sehen das anders) durchgeführt hat, ist ein Argument. Dazu führt der SR später vor Gericht aus: Astel habe die Erlaubnis der Gefängnisleitung „dazu missbraucht, die Gefangenen zur Kritik an den Verhältnissen, Arbeitsweisen und Arbeitsmethoden der Anstalt und am Strafvollzug schlechthin zu ermuntern“. Kritik an der Anstalt als Kündigungsgrund: Beim Wort „Anstalt“ denkt man natürlich nicht nur ans Gefängnis, sondern auch an den Sender.

Wenn man die Prozessakten von damals liest, werden die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen jener Jahre noch einmal deutlich. Diese Prozesse sind auch ein Stück Zeitgeschichte, sie spiegeln die Mentalitäten jener Jahre. Es ist die Auseinandersetzung zwischen der alten Gesellschaftsauffassung der Nachkriegszeit, deren Repräsentant Mai ist, und einem aufbrechenden neuen Geist, verkörpert von Arnfrid Astel, der seinem Geburtsjahrgang nach eigentlich gar kein richtiger „68er“ mehr ist. Die Mentalität der SR-Seite tritt umso offener zutage, als sich in den Darlegungen ihrer Vertreter immer wieder Argumente finden, die im juristischen Sinne irrelevant (von den Richtern als „unwesentlich“ oder „unbeachtlich“ oder auch „geradezu absurd“ zurückgewiesen), aber in ihrer moralischen Empörung Ausdruck einer bestimmten Gesinnung sind.

Von dem neuen Geist sind auch schon die hier involvierten Gerichte geprägt, die Astels Klage gegen die Kündigung in drei Instanzen bis hin zum Bundesarbeitsgericht Recht geben. Zu guter Letzt muss auch noch einmal das Arbeitsgericht ein Urteil fällen, in dem es um die nachgeschobene Kündigung wegen eines politischen Gedichts geht. In diesem Urteil werden wegweisende Feststellungen getroffen zur Meinungsfreiheit speziell auch von Mitgliedern des Öffentlichen Dienstes; in diesem Zusammenhang wird dem SR eine „überholte Staatsauffassung“ bescheinigt.

Nachdem der SR mit Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7.12.72 seine juristischen Mittel ausgeschöpft und blamable Belehrungen hat einstecken müssen, und am 30.4.73 auch das Urteil des Arbeitsgerichts ergangen ist, kann Astel am 7.5. nach fast zwei Jahren juristischer Auseinandersetzungen das Betriebsgelände des SR wieder betreten und seine Arbeit aufnehmen.

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Arnfrid Astel ist in München geboren, seine Kindheit verlebt er in Weimar, seine Jugend in einem Internat in Windsbach/Mittelfranken. In Freiburg und ab 1955 in Heidelberg studiert er Biologie und Literatur. Von 1957 an ist er Hauslehrer am privaten Englischen Institut. 1959 begründet er die „Lyrischen Hefte“, eine Zeitschrift für Gedichte, mit der Astel beginnt, sich in der Literaturszene einen Namen zu machen (Herausgabe bis 1970). Die „Lyrischen Hefte“ entdecken alte Autoren neu, und sie entdecken neue Autoren, denen sie eine frühe Veröffentlichungsmöglichkeit bieten. Hier veröffentlicht Astel auch eigene Gedichte unter dem Pseudonym Hanns Ramus (lat. ramus = Ast, Zweig). In einer biografischen Notiz heißt es 1979: „Die zehn Heidelberger Jahre von 1955 bis 1965 waren prägend.“ Und: „1966 folgte ein unglückliches Jahr als Lektor beim Middelhauve Verlag in Köln.“ 1967 wird er Leiter der Literaturabteilung beim Saarländischen Rundfunk in Saarbrücken (bis zum Renteneintritt 1998). Astel ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums. Er ist von 1958 bis 1966 mit der Schriftstellerin Eva Vargas verheiratet. Seit dem Freitod seines ältesten Sohnes 1985 hat er sich zusätzlich dessen Vornamen Hans zugelegt.

Zwischen den Stühlen

Als Autor pflegt Astel Formen des kurzen Gedichts, vor allem des Epigramms. Hubert Fichte hat ihn mit dem römischen Dichter Martial verglichen. Über den engeren Kreis der an Lyrik Interessierten bekannt wurde er Ende der 1960er Jahre mit viel zitierten politischen Epigrammen („Zwischen den Stühlen / sitzt der Liberale / auf seinem Sessel.“); diese Texte setzen zwar auf Einverständnis in der Szene der Aufgeklärten, überschreiten aber nie die Grenze zum Agitprop oder zur Parteilyrik. Astel ist immer ein Einzelkämpfer.

Publizistischer Höhepunkt des politischen Epigrammatikers Astel ist das Erscheinen eines Bandes mit „allen“ Epigrammen bei Zweitausendeins. Das Buch erhält zusätzliche Brisanz durch seine Publikationsgeschichte: Der Verlag hat wegen angeblicher „Tändeleien mit der Gewaltfrage“ ein ganzes Kapitel weglassen wollen, dann aber, nachdem Astel öffentlich von Zensur gesprochen hat, doch das gesamte Manuskript veröffentlicht, allerdings mit distanzierendem Beipackzettel und der Spende des Verlagserlöses an gemeinnützige Organisationen.

Fotob Hans Arnfrid liest auf dem saarbrücker Altstadtfest

Foto: Raymond Odermatt

Das ist 1978. Schon ein Jahr später tritt Astel mit überraschend spielerischen, positiv gestimmten, auf Beobachtungen zu Natur und Liebe fußenden Gedichten an die Öffentlichkeit. „Dahlien & Dortien. / Ich will nie mehr / von hier fortziehen“, heißt es in „Die Faust meines Großvaters“. Andere Texte in dem Band (wie auch in den nachfolgenden) zeigen, dass Astel damit nicht zum unpolitischen Menschen geworden ist. Wenn er sich seit Ende der 1970er Jahre wieder stärker Naturthemen zuwendet, dann kehrt er damit zu seinen Anfängen als Naturlyriker zurück. Aber auch in den seit 1968 erschienenen Büchern haben die im engeren Sinn politischen Gedichte nie überwogen, sie sind nur in der öffentlichen Wahrnehmung nach vorn geschoben worden und haben das Image des Autors geprägt.

Der Mythenforscher

In den folgenden Büchern zeigt sich, wie Astels Interesse sich immer stärker der Mythologie zugewandt hat. Als Natur- und Mythenforscher auf eigene Faust, abseits des Wissenschaftsbetriebs, glaubt er, durch geduldige Beobachtung der Phänomene Entdeckungen gemacht zu haben wie die Entwicklung der Schnecke aus der Muschel. 1990, von den saarländischen Grünen zu einem Vortrag bei ihrer Landesdelegiertenkonferenz eingeladen, spricht er nicht über Politik, sondern über Pflanzen und ihre Mythen. Da er sich in seinen Texten nach wie vor dem Zwang zur kurzen Form aussetzt, geraten sie für mythologisch weniger Bewanderte zu Rätselstücken. Umso erfreulicher, dass 2001 im Saarbrücker PoCul-Verlag unter dem programmatischen Titel „Was ich dir sagen will…kann ich dir zeigen“ den alten und neuen Texten erläuternde Bilder gegenübergestellt werden.

Genauso wichtig wie die Produktion von sorgfältig vorformulierten, formalen Prinzipen gehorchenden, manchmal enigmatischen Texten ist bei Astel die mündliche Rede. Mit seinen Autorengesprächen habe Arnfrid Astel „Rundfunkgeschichte geschrieben und sich eingereiht in das Pantheon großer Namen, die für eine deutsche Radiokultur stehen, die längst nicht mehr existiert“, sagt der Schriftsteller Ralf Thenior, der Saarbrücker Germanist Gerhard Schmidt-Henkel spricht von „Sternstunden literarischer Kommunikation“, und für den ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt ist Astel „eines der besten Argumente für das Fortbestehen des Saarländischen Rundfunks“, denn „der Rundfunk nährte seinesgleichen, band sie ans Land, lockte so manchen Landflüchtigen zurück und brachte neue Gesichter, Charaktere und Ideen an die Saar“. Astel pflegt eine spezielle Art des Zuhörens und Fragens und ist ein strikter Anhänger der natürlichen („naturtrüben“, wie er es nennt), ungeschnittenen Wiedergabe des Gesprächsverlaufs im Radio.

Bild eines Scherenschnitts seiner Homepage

Scherenschnitt seiner Homepage

Durch einen Kurs an der Universität des Saarlandes wird Astel Begründer einer literarischen Schule. Sechzehn Jahre lang, vom Wintersemester 1979/80 bis zum Wintersemester 1995/96, bietet er an der Saarbrücker Uni einen Literaturkurs an, mit dem Titel: „Selber Schreiben und Reden – Einhornjagd und Grillenfang – Anfertigen und Vorzeigen kurzer literarischer Texte auf Gegenstände und angreifbare Zustände im Kopf und außerhalb.“ Daraus entsteht, was sich selber, mit Zustimmung Astels, „Saarbrücker Schule“ nennt, mit Autoren wie Klaus Behringer, Martin Bettinger, Nico Graf, Marietta Schröder, Erhard Schmied, Wolfgang Stauch.

Lapidar (von lat. lapis = der Stein) wie er ist, wird ein Text von Astel in St. Wendel vom Bildhauer Leo Kornbrust in eine Steinskulptur eingemeißelt. 

Astel ist mehrfach Gegenstand von Literatur geworden. Katrine von Hutten hat Gedichte über ihn geschrieben, in Karin Strucks Roman „Klassenliebe“ figuriert er als „Z.“, bei Angela Praesent als „Reinhard Distel“, bei Michael Buselmeier als „Hans“, in Manfred Römbells „Rotstraßenende“ als „Arved Zabel“.

Am 13. April 2018 hielt die Schriftstellerin Sibylle Knauss bei der Gedenkveranstaltung des verstorbenen Dichter Arnfrid Astel  eine Trauerrede im Konferenzgebäude des Saarländischen Rundfunks.(RP)

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