Andreas H. Drescher

geb. 22. Dez. 1962 in Schwalbach/Saar

schwarz weiß portraitEr bezeichnet sich selber als „Grenzgänger zwischen Literatur, Kunst, Film und Musik“.

Andreas H. Drescher hat Germanistik, Politik und Philosophie in Köln studiert mit dem Ziel, Schriftsteller zu werden. Er lebt seit ein paar Jahren in Saarlouis als freier Autor und Künstler. Dreschers Schwerpunkt liegt „auf der Fusion von Literatur und Künstlicher Intelligenz“ in seinem virtuellen Gesprächspartner „Maldix“, für dessen innovativen Ansatz er 2011 eine „lobende Hervorhebung“ beim Campus-Award für e-Learning und 2017 den Kulturpreis für Kunst und Wissenschaft des Landkreises Saarlouis erhält. „Maldix“, benannt nach dem Windgeist vom Litermont bei Düppenweiler, existiert bislang nur als Demo (siehe Youtube) und Konzept.

Dreschers Buch „Fremde Zungen“ wird von ihm digital animiert, er arbeitet zusammen mit dem saarländischen Jazzer Bernd Thewes, und sein Film „Zirrus“ beruht auf einer Performance mit der australischen Tänzerin Jenny Atwood beim Internationalen Poesiefestival Berlin. Dreschers Hörroman „Darwins Schöpfungsgeschichte“ wurde „Top-Tipp“ des HörBücher-Magazins („Für Darwinisten und Poesiefreunde ein Genuss“.) In seinem Verlag Edition Abel veröffentlicht er ausschließlich eigene Werke.

Papierschiffe auf großer Fahrt

Im Jahr 2000 erscheint in der vom Künstlerhaus in Zusammenarbeit mit dem Saarländischen Schriftstellerverband herausgegebenen Buchreihe „Topicana“ der Band „Fremde Zungen“ mit Gedichten und einem „Hörstück“ von Drescher. Das Buch ist mehr als eine disparate Sammlung von Texten – es ist ein bis in die typographische Gestaltung durchkomponiertes Werk mit einheitlicher Bild- und Gedankenwelt.

Die Texte führen in eine Welt der Meere, Inseln, Stürme. Wir begegnen Seefahrern und magischen Ritualen aus einer lange zurückliegenden Zeit. Die Grundstimmung ist die der Bedrohung, des Hereinbrechens der Katastrophe, festgemacht etwa am Eindringen der spanischen Eroberer ins Reich der Azteken.

Die Eroberer ebnen alles ein, auch sprachlich, die Vielfalt der fremden Pflanzenwelt etwa wird reduziert auf einen einzigen Begriff: „für alles Grün nur ein Wort Dickicht“. Der Autor hingegen, der weiß, niemand „kann versprechen, dass nicht nur Fremdheit da heraussticht“, redet in „fremden Zungen“, er benutzt veraltete Wörter oder Fachbegriffe aus der Seefahrt und macht mythologische Anspielungen, die er im angehängten Glossar erläutert. Er belässt dem Fremden seine Fremdheit, und das macht die Lektüre nicht einfach. Doch weil seine Bildwelt so einheitlich und durchgestaltet ist, gibt es ein vorrationales Verstehen, auch ohne dass man Zeile um Zeile in die Alltagssprache übersetzen könnte

Der Autor selber lebt in einer Zeit, in der sich „nur noch Papierschiffe auf Großer Fahrt“ befinden, und er macht nur noch Gedankenreisen, weil „Reisen abfallen / dagegen / sich rückwärts an / sich selbst zu lehnen“. Er ist nach dem „Papierland“ namens Konjunktivien „ausgewandert“, ins Reich der vorgestellten Möglichkeiten, der Phantasie: „Hier / fährst / du aus / dein eigener Vizekönig“.

2016 erscheint Dreschers Buch „Die Rückkehr meines linken Armes“. Dieses Buch scheint auf den ersten Blick ganz anders zu sein als „Fremde Zungen“: Es ist Prosa, spielt in der Gegenwart, ist nicht in der Fremde, sondern in Saarlouis und Umgebung verortet (Untertitel: „Geschichten einer Gegend“), und statt sich im Konjunktivischen zu bewegen, klingt alles absolut wirklichkeitsnah. Es sind 28 Lebensläufe, teils in der Ich-, teils in der Er- bzw. Sie-Form und teils gemischt wiedergegeben. Bekannt gemacht werden wir nicht mit „repräsentativen“, sondern mit gebrochenen Biographien, die ansonsten meist „mit links“ behandelt werden. Wir begegnen Zuwanderern wie dem Straßenmusiker aus Bulgarien oder dem Inder, der ein Lokal in den Saarlouiser Kasematten betreibt. Andere stammen zwar von hier, haben aber nach einem Ausflug in die Welt nicht mehr richtig zurückgefunden („Schon seit Siebenundvierzig lebte Erich wieder im Dorf und war trotzdem noch nicht wieder zurück aus Afrika.“). Wieder andere wurden durch die politischen Zeitläufte aus der Bahn geworfen, wie der Bergmann, der 1935 für den Status quo gestimmt hat und nach Anschluss des Saargebietes ans Dritte Reich seine Heimat verlassen musste.  In all diesen Geschichten erweist Andreas H. Drescher sich als ein Autor, dem die Menschen sich gern aufschließen – „anscheinend habe ich ein Zuhörgesicht“, sagt er. Nach eigener Auskunft hat Drescher die Berichte seiner Gesprächspartner aber nicht eins zu eins wiedergegeben, sondern erzählerisch bearbeitet („Ich bin ja Autor und kein Journalist“); auch der Buchtitel „Die Rückkehr meines linken Armes“ weist auf den poetischen Anspruch hin. Dem Eindruck von Authentizität der Geschichten tut dies allerdings keinen Abbruch.

Überraschend zeigt sich eine große thematische Übereinstimmung mit dem sechzehn Jahre zuvor veröffentlichten Gedichtband. Auch in der Prosa ist das Grundthema die schwierige Begegnung mit dem Fremden. Manchmal scheint die Grenze zwischen den Kulturen unüberschreitbar zu sein: Plötzlich verstehen eine Frau aus dem Saarland und das befreundete kurdische Ehepaar einander nicht mehr, als die Kurden darauf bestehen, dass eine vermeintliche Befleckung der Familienehre nur mit Blut ausgewaschen werden kann. Eine andere Frau kann sich nicht damit abfinden, dass dem türkischen Freund seine Herkunftsfamilie über alles geht. Die Schranke des Nichtverstehens zwischen Frau und Mann besteht manchmal auch dann, wenn beide aus der gleichen Kultur stammen.

Das Scheitern der Beziehungen, das Fremdbleiben des Fremden wird von Andreas H. Drescher nur protokolliert, ohne Emotion, ohne Ideologie.

Das Buch „Die Rückkehr meines linken Armes“ wurde gefördert vom Landkreis Saarlouis im Rahmen seines 200-jährigen Bestehens. Der in Berlin lebende saarländische Lyriker Konstantin Ames hat Drescher in einer Besprechung für die „Saarbrücker Zeitung“ (5.1.17) mit Alfred Gulden verglichen, dem anderen Saarlouiser Autor, dem Ames vorwirft, zu sehr aufs Typische abzuheben. Das Buch von Drescher nennt er „ein über weite Strecken vitales Panorama von Bewohnern der Stadt Saarlouis und Umgebung im vergangenen und in diesem Jahrhundert“.

2018 legt Drescher mit „Kohlenhund“ seinen ersten Roman vor. Es ist eine Liebeserklärung an den Großvater, der dem Erzähler von klein auf viel bedeutet hat. Drescher entlockt dem alten Mann zunächst Episoden aus seinem komplizierten Leben als Grenzlandbewohner, der 1910 als Sohn eines Elsässers im Saarland geboren wurde. Je mehr die Erzählung auf den Tod des Großvaters zusteuert, desto stärker kommt eine andere Grenzsituation zum Tragen: die zwischen Traumvisionen und Wirklichkeit. Der Enkel bleibt dabei nicht bloßer Protokollant, seine Intensität entwickelt der Roman durch den Einbruch eigener Erinnerungen, Träume, Reflexionen und Ängste. ZITAT

Sein nächstes Werk bringt Drescher nur als Hörbuch auf den Markt. „Complicius Complicissimus“ (2020) erzählt die wahre Geschichte des Abenteurers und Hochstaplers Ignaz Trebitsch (1879-1943). Trebitsch, in Paks/Ungarn geboren, war Abgeordneter im britischen Unterhaus, richtete ein betrügerisches „Schneeball-System” ein, versuchte sich im Ersten Weltkrieg als Doppelagent für Großbritannien und Deutschland, beteiligte sich als Vertrauter von Oberst Max Bauer am Kapp-Putsch, war Berater chinesischer Warlords und starb nach mehreren Jahren als buddhistisch-lamaistischer Guru unter dem Namen Chao Kung in Shanghai. Ausschnitte aus dem Werk führt Drescher als 50-minütige Video-Performance vor, die auf seiner Homepage und auf YouTube verlinkt ist (youtu.be/fMgbtE-9w8Y).

Die 2021 erschienene „Schaumschwimmerin“ knüpft dort an, wo „Kohlenhund“ geendet hat. Auch hier legt der Saarlouiser Schriftsteller wieder einen Heimatroman der ganz eigenen Art vor, ohne dass ein Ort der Handlung genannt wird. Die titelgebende Schaumschwimmerin ist die Großmutter, die seit einem Jahr krank darniederliegt und die von sich sagt: „Vor fünfzehn Jahren hätte man die Straße mit mir walzen können. Und heute bin ich so leicht, dass ich oben auf dem Schaum schwimme.“  Soeben ist der Großvater gestorben, und während sein Leichnam zunächst noch aufgebahrt ist, dann vom Bestattungsinstitut abgeholt wird, überkommt die Großmutter ein unwiderstehlicher Rededrang, dem der Enkel als Ich-Erzähler sich ganz ausliefert.

Die Erzählungen reichen zurück bis in die Zeiten der Großmutter der Großmutter, als die Menschen auf dem Lande ihre christliche Religion noch unbefangen mit so genanntem Aberglauben verbanden und an Sagengestalten wie die böse Kornfrau oder den wilden Reiter Maldix glaubten. Es sind Erinnerungen an das von harter Arbeit geprägte Leben der Bergmannsbauern und ihrer Familien, im subjektiven Erleben werden auch Ereignisse der regionalen Geschichte gestreift, die Dominanz der protestantischen Vorgesetzten im Bergbau, die Kriege, die Fremdarbeiter, die Evakuierungen, das Hamstern bei den Bauern.

Die Sprache der Großmutter ist bildhaft und von fast vergessenen Redewendungen durchsetzt, in den erzählenden Passagen ist der Autor bestrebt, eine Sprache zu finden, die genauer ist als die abgenutzten Formeln, mit denen wir Handlungen und Gefühle zu beschreiben gewohnt sind. Dabei bleibt der Enkel kein bloßer Protokollant, auf unaufdringliche Art bringt er sich selber ins Spiel, fühlt sich in die Welt des Kindes ein, in der die Großmutter ihm so viel bedeutet hat, füllt die Erinnerungslücken der alten Frau: „Großmutters Erzählungen waren jetzt so stark in mir, dass ich sie zu ergänzen beginne.“ Und so entsteht in der Zeit eines einzigen Tages und einer Nacht ein ganz eigener suggestiver Kosmos zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Mythos und Wirklichkeit. (RP)